Taryn Simon: The Innocents, Larry Mayes. Museum Folkwang Essen, 2013/2014. (Bild: Vera Kriebel, 8.11.13)

Die Fotografie ist mit der Dokumentation verknüpft, wenn auch in brüchiger und in vielen Fällen sogar in trügerischer Verbindung. Schon länger wird an den Grenzen zwischen Dokumentarischer Fotografie und Fiktion und mehr noch der Inszenierung, dem Theater, dem Drama experimentiert, mit Staged Photography zum Beispiel.

Ganz anders der Ansatz der jungen amerikanischen Fotografin Taryn Simon: Ihre Werke sind inszeniert, ganz offensichtlich und doch anscheinend gestellt.

Innocents (2002)

Wie auf der Bühne posiert da ein Mann – sorgfältig zurechtgemacht und herausgeputzt - am Tatort des Verbrechens:

Der Vergewaltiger, der Mörder, der Räuber. Männer, die über Jahrzehnte unschuldig in US-amerikanischen Gefängnissen inhaftiert waren, bis sie die neuen Methoden der DNA-Analysen als unschuldig erwiesen. Rehabilitiert? Auf den Fotos, die ein Verbrechen dokumentieren und doch wieder nicht, sieht es eher nicht so aus. Die Verbrechen bleiben ein Trauma, ihr Trauma, der Albtraum dieser Männer, die dort im Anzug im Sumpf stehen, von Scheinwerfern fixiert werden, an der Theke hocken, sich unter der schmierigen Matratze verstecken …

Taryn Simon zeigt in ihren Fotos etwas, das verborgen ist, das oft auch verborgen sein will.

Taryn Simon: The Innocents, Calvin Washington: Museum Folkwang Essen, 9.11.2013 – 2.3.2014 (Bild: Vera Kriebel, 8.11.13)

A Living Man Declared Dead and Other Chapters I – XVIII

So auch in den Kapiteln von A Living Man Declared Dead and Other Chapters I – XVIII (2011), weltweite fotografische Genealogien, die Familien in der unterschiedlichsten Art und Weise dokumentieren: Den Stammbaum eines indischen Mannes, der für tot erklärt wurde, weil so seine Verwandten an sein Vermögen kamen, und der seit Jahren verzweifelt um seine Existenz kämpft. Eine bosnische Familie nach dem Krieg: Die einzelnen Kapitel sind jeweils als wandfüllendes Triptychon angeordnet, links die sachlichen Portraits der einzelnen Familienmitglieder, zum Beispiel über Passfotos; Leerstellen stehen für abwesende oder entführte oder gefallene oder aufgrund gesellschaftlicher Tabus nicht fotografierbare Familienmitglieder (zum Beispiel Frauen). In der Mitte ausführliche Texte, Hintergrundinformationen, Geschichten zum Thema - wie überhaupt die Erläuterungstexte wesentlich zu den Werken von Simon gehören. Rechts dann die zugehörigen Fotobeweise.

Kapitel VI ist den in Australien im 19. Jahrhundert eingeführten Kaninchen gewidmet, die sich dort seuchenartig ausgebreitet und die heimische Fauna/Flora massiv gestört haben. Genealogisch portraitiert werden die Test-Kaninchen, die mit Pest geimpft worden waren, um der Kaninchenplage Herr zu werden. Im rechten Flügel des Kapitels ein Haufen toter Kaninchen, erschossen von der "NatureCall", einer Art Kaninchen-Wehr. Und ein Schokohase, der verkauft wurde, bis 1993 auch dessen Hersteller sich der "Foundation for Rabbit-Free Australia" anschloss.

Taryn Simon, Kap. VI. Australische Testkaninchen. Portraits des linken Triptychon-Flügels. Museum Folkwang Essen, 9.11.2013 – 2.3.2014. (Bild: Vera Kriebel, 8.11.13)

Taryn Simon begnügt sich also nicht allein mit psychologisierenden oder im Kunstraum verbleibenden Erzählungen, sie verknüpft auf eine sehr besondere feine und filigrane Art künstlerische Inszenierung mit politischer, gesellschaftlich relevanter Dokumentation und Kommentaren. Dies gilt auch für die dritte im Folkwang-Museum ausgestellte Werkreihe:

An American Index of the Hidden and Unfamiliar

Mit der Ästhetik der weitwinkligen, von monomanen Mustern geprägten Bilder des Abartigen, Langweiligen, eines Andreas Gursky inszeniert Taryn Simon in An American Index of the Hidden and Unfamiliar (2006/2007) Essensabfälle, medizinischen Sondermüll, aber auch den nordamerikanischen Hoh-Urwald, laut Begleitschild der "weltgrößte intakte, geschützte Regenwald". Sehr US-amerikanisch vermutlich die Fotografie der Blindenausgabe des Playboy. Vor amerikanischer Prüderie verdrängt und verborgen?

Der Titel der Ausstellung im Museum Folkwang "There are some who are in darkness." ist übrigens ein Zitat aus der englischen Fassung der Moritat von Mackie Messer aus Berthold Brechts Dreigroschenoper. Und im Pressetext heißt es: Taryn Simon zeige "Positionen eines erweiterten fotografischen Dokumentarbegriffs" und beleuchte "die,Dark Side of Life‘", mache "bisher Ungesehenes sichtbar". "Das methodisch Spannende und Innovative all ihrer Werke liegt aber auch in der Art und Weise, wie die textliche Erzählung das Bild erweitert, wie Fotografie und Text zu einer untrennbaren Einheit werden."

Taryn Simon: Schmuggelware. Museum Folkwang Essen, 9.11.2013 – 2.3.2014 (Bild: Vera Kriebel, 8.11.13)

Infos zu Taryn Simon im Museum Folkwang in Essen

  • Taryn Simon: There are some who are in darkness. Works from the Olbricht Collection, selected by the artist.
  • Laufzeit: Von 9. November 2013 bis 2. März 2014.
  • Adresse: Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen. Folkwangmuseum
  • Anfahrt: Der Folkwang-Bus vom Hauptbahnhof (Südausgang, dem City-Ausgang entgegengesetzt) fährt nur am Wochenende. Werktags: unter dem Hauptbahnhof U11, 101 oder 107 (Richtung Messe/Bredeney); zwei Stationen weiter Ausstieg "Rüttenscheider Stern"; der Fußweg von etwa 500 Metern führt durch ein szeniges Viertel (südlich des Folkwang-Museums, Bismarckseite queren).
  • Öffnungszeiten: Di-So 10-18:00, Fr 10-22:30, Mo geschlossen.
  • Eintrittspreise für die Dauerausstellungen 5 €, ermäßigt: 3,5 €, Familien 10,50. Ausstellungen des fotografischen, grafischen und Plakat-Bereichs sind meist inklusive. Die Wechselausstellungen haben variierende Preise.
  • Führungen: Mittwoch, 20. November 2013, 16:00 Uhr Kuratorenführung. (Führungen werden nicht regelmäßig zu den einzelnen Ausstellungen angeboten, grundsätzlich gilt aber: sonntags zwischen 14 und 15 Uhr beginnt immer eine Führung - man weiß nur nicht, zu welcher der Ausstellungen. Notfalls hilft da der Audioguide (4 Euro).)
  • Sonderveranstaltungen für Kinder und Schüler (Bildung und Kunstpädagogik ist im Folkwang traditionell wichtig: Audioguide, Führungen, Workshops und Themenveranstaltungen für Kinder und Schüler (Schulklassen).)
  • Ausgezeichneter Veranstaltungskalender, der sich auch zum Beispiel zur Suche für das Kinderprogramm eignet.

Museum Folkwang Essen, Taryn Simon. 9.11.2013 – 2.3.2014
Museum Folkwang Essen, Taryn Simon ...

Museum Folkwang Essen, Taryn Simon. 2013/2014. (Bild: Vera Kriebel, 8.11.13)

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