Volksbühne Berlin: Kritik von "Reise nach Petuschki" - Sebastian Klink
Wenedikt Jerofejews Roman aus dem Jahr 1969 liefert eine exzessive Sauffahrt per Zug. Die Hauptfigur deliriert und trifft anscheinend nur auf erprobte Trinker.
Alexander Scheer
© Maximilian Bühn
Rock den Jerofejew
Ein Mann, der sich offensichtlich bei YouTube kundig gemacht hat, ist nun einmal Alexander Scheer. Die vorhandene Heavy-Metal-Band nutzt er dazu, nicht nur als Sänger in ordenbehängter sowjetischer Uniform mitzumischen, sondern auch als Gitarrist. Und tatsächlich, hier wird eine Wiederauferstehung von Zappa gefeiert: Die 77er- Aufnahme von Muffin Man, übrigens vorzüglich zum Mitsingen geeignet, doch Scheer zieht nach anfänglichem Gesangsversuch die Sologitarre vor. Und so kopiert und parodiert er fröhlich dahin, bis hin zur namentlichen Vorstellung der Bandmitglieder. Leider haben die anfangs mit ihrem einfallslosen Schrumm-Schrumm schwach begonnen, genauso wie das Ensemble. Auf einem eingespielten Video sind Christian Schneeweiß, Patrick Güldenberg und Daniel Zillmann zu sehen, wie bei einer geheimen Verhandlung, die ins Überlaute umkippt. Es geht zäh voran, und eine schwache Passage ist dazu angetan, unwillkürlich ein kleines Überbrückungsschläfchen zu provozieren. Interessanter wird es erst, als die wunderbare Jeanette Spassova ihren Einsatz hat. Ladylike und cool trägt sie Blondperücke und dunkle Brille und spielt die gesuchte Geliebte – und noch vieles mehr. Adrette Noblesse kann schnell ins Derbe abgleiten, und von Puschkin-Glorifzierung hin zu ausgeschüttetem Drohpotential ist der Weg nicht weit. Manche Szenen wirken wie Variationen eingebauter Versatzstücke alter Castorf-Inszenierungen. Aber amateurhaft ist es nur in Ausnahmefällen.
Party statt Martyrium
Und der bullige, stets hochmotivierte Zillmann? Der steckt in einem Biene-Maja-Kostüm mit Bärenfell und kontrolliert lärmend Fahrscheine, das passt ja inhaltlich zur Alkoholfahrt. Mit Güldenberg und Schneeweiß kann Zillmann über so manches sprechen, über die arbeitstechnischen Trinkgewohnheiten von Schiller und Goethe beispielsweise. Hört, Letzterer hat den Wein verschmäht, aber wer gerne trinkt, kann sich jederzeit auf Schiller berufen. Zillmanns Figuren schwätzen allerhand daher, neben marginalem Trash tauchen historische Potentaten auf. Da der Roman 1969 wegen der disziplinierten sowjetischen Zensur nur schwarz als Underground-Literatur erscheinen konnte, enthält er natürlich einige Brisanz. Ein Revolutionsmütze mit zackigem roten Stern tragend, erwähnt Zillmann neben dem in Moskau verworfenen Alexander Dubcek auch den damaligen indonesischen Präsidenten Suharto, einen langjährigen Freund Helmut Kohls übrigens, ungeachtet der Tatsache, dass Suharto 1965 fast die gesamte linke Opposition auslöschte. Das Einwerfen von großen Namen, die, in den passenden Kontext gesetzt, Assoziationsräume öffnen, und intellektualisierte historische Bestandsaufnahmen gehören seit jeher zu den Hauseigentümlichkeiten. Auch ein großes Fass, das Scheer zwecks Einleitung einer Joke-Party aufmacht. Bizarre Ingredienzien werden hineingeworfen, etwa Antifußpilzpulver, Schnaps, Hummer und Bremsflüssigkeit, und das Gemisch dann ans Publikum weitergereicht. Was da angeboten wird und wie Bitterstoffe enthaltende Medizin aussieht, ist ein Getränk, das selbstverständlich frei von abenteuerlichen Zutaten ist. Kurz, es ist viel Spaß dabei, obwohl die Schauspieler*innen etwa eine Stunde brauchen, um aus den Startlöchern zu kommen und Fahrt aufzunehmen. Martyrium? Party! Ein weiterer Abschlussball. Mit Rückgriff auf den Castorf'schen Baukasten.
Reise nach Petuschki
Ein Delirium bzw. Kurzzeitodyssee per Bahn nach Wenedikt Jerofejew
Fassung von Thomas Martin
Regie: Sebastian Klink, Raum: Bert Neumann, Bühne: Gregor Sturm, Kostüme: Gregor Sturm, Videokonzeption: Konstantin Hapke, Nicolas Keil, Kamera: Simon Baumann, Musikalische Leitung: Kriton Klingler.
Live-Musik: Kriton Klingler, Conner Rapp, Mathias Brendel
Mit: Jeanette Spassova, Alexander Scheer, Daniel Zillmann, Patrick Güldenberg, Christian Schneeweiß.
Volksbühne Berlin, Kritik (2. Aufführung) vom 17. April 2017
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)