Warum hat das Weinglas einen Stiel?
Früher wurde bei Trinkgelagen gebechert. Heute gibt es Weingläser mit Stiel – das ist nicht nur eine Frage des Stils, sondern vor allem des guten Geschmacks. Wie man ein Weinglas richtig hält.Von wegen stilsicher: James Bond, ein Weinkenner?
James Bond gehört bestimmt zu den Menschen, die Wert auf Stil legen: Das Sakko sitzt immer korrekt, egal was sich vorher alles abgespielt hat. Doch in Casino Royale erweist sich Daniel Craig tatsächlich als Banause: Bei einem romantischen Dinner umfasst er das Glas tatsächlich mit der ganzen Hand statt es mit den Fingern am Stil zu halten. Ob es an seiner schottischen Herkunft liegt, dass er das Glas schwenkt, als ob es Whiskey wäre? Oder hat diese Stilverwirrung mit der schönen Frau ihm gegenüber zu tun? Wen interessiert in einer solchen Situation schon, ob der Drink schmeckt?
Wie Wein am besten zur Geltung kommt
Bei Weinkennern ist das anders. Da trägt es entscheidend zum Genuss bei, das Glas richtig zu halten – am Stiel nämlich. Nur so kann der Wein seinen Geschmack optimal entfalten. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Mit Wein auf etwas anzustoßen ist immer ein besonderer Moment. (Bild: pixabay.com)
Temperatur: Kühler Weißwein wird viel zu schnell warm, wenn man den Kelch mit der Hand umfasst. Wer das Glas am Stiel hält, kommt länger in den Genuss eines gut temperierten Weins. Das ist übrigens auch der Grund, warum Weißwein-Gläser kleiner sind: Der Wein wird nur in kleineren Portionen kredenzt, damit er nicht in Gefahr gerät, zu lange am Tisch in der Wärme zu stehen.
Optik: Wer das Glas am Stiel festhält, vermeidet es, dass im Lauf des Abends mehr und mehr Fingerabdrücke am Kelch zurückbleiben. Weinkenner legen sowieso Wert auf einen unverschleierten Blick auf Farbe und Konsistenz der edlen Tropfen. Aber man muss kein Sommelier sein, um zu genießen, wenn der Wein im Glas funkelt.
Klang: Weingläser kommen beim Anstoßen nur schön ins Schwingen, wenn sie möglichst weit unten am Stiel gehalten werden. Ich finde es immer total ernüchternd, wenn mein Gegenüber dafür keinen Sinn hat. Ein schöner Klang beim Anstoßen gehört zum Weintrinken wie die Ouvertüre zur Oper. Vor allem beim Klang macht sich der Unterschied zwischen hochwertigen Kristallgläsern und Ikea übrigens deutlich bemerkbar.
Geschmack: Weingläser gibt es in verschiedenen Formen: Rotwein wird aus bauchigen, Weißwein aus schlanken, nach oben zulaufenden Kelchen getrunken. Das hat geschmackliche Gründe: Je nach Form landet der Wein beim Trinken auf verschiedene Weise im Mundraum. Das beeinflusst die Wahrnehmung: Die Zunge schmeckt nur mit der Spitze süß, im hinteren Bereich bitter, an den Seiten sind die salzige und saure Zone angesiedelt.
Claus J. Riedel (1925–2004), Designer und Vertreter der 9. Generation einer österreichischen Glasmacher-Dynastie, war der erste, der erkannte, wie Bouquet und Geschmack von Weinen durch die Form des jeweiligen Glases beeinflusst werden. 1958 brachte er die ersten sortenspezifisch geformten Weingläser auf den Markt.
Warum Wein aus bauchigen Gläsern anders schmeckt als aus schmalen Kelchen
Beispiel Rotwein: In großen bauchigen Gläsern können Rotweine gut atmen, entfalten also durch den Sauerstoff ihr Aroma. Durch die breite Öffnung verteilt sich der Wein gleichmäßig in der Mundhöhle und erreicht so auch gut die seitlichen Regionen mit ihren vielen Geschmacksnerven. So kann sich seine Säure gut entfalten, die bitteren Gerbstoffe werden dagegen weniger wahrgenommen. Kein Wunder, wenn man da von vollmundigen Weinen redet ...
Beispiel Weißwein: Weißweingläser sind schlanker und haben eine kleinere Öffnung. Der Wein wird dadurch klarer gelenkt und landet zunächst auf der Zungenspitze, die vor allem Süße wahrnimmt. Bei trockenen Weißweinen, die sowieso viel Säure haben, verhilft das zu einem harmonischen Gesamteindruck, bevor auch die übrigen Komponenten geschmacklich zum Tragen kommen.
Schlank und schmal: Weißweingläser (Bild: pixabay.com)
Warum jahrhundertelang nur gebechert wurde
Weingläser mit Stiel gibt es schon seit vielen Jahrhunderten. Die venezianischen Glasmacher des 17. Jahrhundert beherrschten es perfekt, Kelche samt Stiel herzustellen. Doch das ist eine aufwändige und personalintensive Angelegenheit. Denn die heiße Glasmasse darf während des Produktionsprozesses nicht zu stark erkalten, damit sie sich formen lässt. Um den Stiel am Kelch anzusetzen, ist genaues Timing nötig. Kölblmacher, Einbläser und Einträger müssen Hand in Hand arbeiten. Wenn alles gut läuft, sind an die 30 Gläser in Handarbeit pro Stunde drin.
Hier die Herstellung in einzelnen Schritten:
http://www.petzi-kristall.de/Glasherstellung/glasherstellung.htm#Herstellung%20und%20Verarbeitung.
Ein – zugegeben ziemlich aufgeblähter – Imagefilm von Schott in Zwiesel zeigt, wie es geht. Interessant ist da vor allem der Zeitabschnitt 2:50 bis 5:00.
Während Glasflaschen schon ab 1903 durch ein Verfahren des US-amerikanischen Erfinders Michael Owens maschinell hergestellt werden konnten, sollte es bis in die 1960er-Jahre dauern, ehe es gelang, Kelchgläser vollautomatisch und in großer Stückzahl zu produzieren. Die Zwiesel Kristallglas AG mit den Marken Zwiesel, Schott Zwiesel und Jenaer Glas ging 1961 dazu über, Kelchgläser maschinell herzustellen, die sich auf den Märkten dann schnell durchsetzten.
Warum der Stiel so oft verschmäht wird
Trotzdem ist erstaunlich oft zu beobachten, dass der Stiel ignoriert wird. Vielleicht, weil es bequemer ist, das Glas beim Kelch zu umfassen? Zugegeben: Um ein gut gefülltes Glas am dünnen Stiel zu balancieren, sind Feinmotorik und Konzentration gefragt. Chillen geht anders. Cool und lässig kommt man so auch nicht rüber.
In seinem Film Midnight in Paris spielt Woody Allen mit diesen beiden Typen von Weintrinkern. Gil, ein amerikanischer Schriftsteller, trifft mit seiner Verlobten bei einem Urlaub in Paris den pseudointellektuellen Paul, der zu gerne über französische Lebensart philosophiert. Bei einer Weinprobe auf einer Dachterrasse – im Hintergrund der Eiffelturm – ist es natürlich der kulturbeflissene Paul, der sein Glas stilecht am Stiel hält und den anderen erklärt, auf was es beim Weintrinken ankommt. Währenddessen schwenken die Umstehenden ihren Rotwein gelangweilt im Kelch hin und her.
Formschöne Hingucker: Wein in Kunst und Fotografie
Wenn es um das Thema Wein in Kunst und Fotografie geht, sind Weingläser oft das zentrale Motiv. Schließlich sind sie ein wirklich formschöner, funkelnder Hingucker. Was für eine Figur würde da ein Weinglas ohne Stiel machen?
Immer ein Blickfang: Weingläser als Fotomotiv (Bild: pixabay.com)
Plädoyer für den stilechten Gebrauch
Nicht jeder ist ein Sommelier. Aber ab und zu gibt es Situationen, in denen es sich lohnt, das Weinglas ernst zu nehmen. Ein romantisches Abendessen zu zweit beispielsweise. Wer da vorhat, dem Gegenüber einmal ganz tief in die Augen zu schauen, hat beim stilechten Weingenuss die besten Chancen: Das Glas konzentriert am Stiel zu halten garantiert die nötige zugewandte Aufmerksamkeit, der Klang beim Anstoßen gibt den Moment präzise vor, um einen verliebten Blick auszutauschen. In diesem Sinn: Zum Wohl!
Der Clou zum Schluss: Es gibt auch Weinkelche ohne Stiel
Es gibt sie tatsächlich: Weingläser für Rot- oder Weißwein, bei denen der Stiel fehlt. Durchaus formschön übrigens.
Zugegeben: Dann kann schon mal nichts mehr abbrechen. In der Spülmaschine sind sie auch leichter zu verstauen. Und im Picknickkorb auch. Nur am Tisch bei Kerzenschein machen sie keine so gute Figur...
Die Weingläser ohne Stiel gibt es ebenfalls verschieden geformt, je nachdem, ob sie für Rot- oder Weißwein bestimmt sind.
... aber dafür mit integriertem Griff! |