Zeit aus den Fugen: Philip K. Dicks Science-Fiction-Klassiker
Philip K. Dick vom Feinsten: Was ist im Szenario des Romans "Zeit aus den Fugen" wirklich, und was Einbildung oder lediglich Kulisse?Und täglich grüßt das kleine, grüne Männchen
Old Town Ende der 1950er Jahre: Der Mittvierziger Ragle Gumm ist kein Bürger wie jeder andere in der beschaulichen Kleinstadt. Denn während alle anderen ganz normalen Jobs nachgehen, verdient er sich die Brötchen mit dem Lösen eines täglichen Preisrätsels in der Zeitung. Seit Jahren rechnet er mittels komplizierter Statistiken aus, auf welchem der über tausend Felder auf einer Seite sich am nächsten Tag das "kleine grüne Männchen" befinden wird. Abgesehen von raren Ausnahmen, trifft Ragle meist ins Schwarze. Das Preisgeld reicht gerade für ein bescheidenes Leben bei seiner Schwester Margo, Schwager Victor und deren gemeinsamen Sohn Sammy aus.
Die Beschaulichkeit findet ein jähes Ende, als er die hübsche Nachbarin Junie ins Bad einlädt und am Kiosk ein Getränk kaufen möchte. Vor seinen Augen löst sich der Kiosk samt Verkäufer auf und zurück bleibt ein Zettel mit der Aufschrift "Getränkekiosk". Dabei handelt es sich zwar nicht um den ersten, aber den bislang bizarrsten Zwischenfall, der ihn an der Ordnung der Dinge zweifeln lässt. Entschlossen macht er sich daran aufzuklären, was in der Stadt vor sich geht, und findet unter anderem Zeitschriften, die ganz offensichtlich nicht aus seiner Zeit stammen können. Auch ist es ihm nicht möglich, eine Telefonnummer außerhalb der Stadt anzurufen. Als Technikfreak Sammy einen Radioempfänger bastelt, gerät Ragles Leben komplett aus den Fugen. Schließlich muss er mit anhören, wie unbekannte Stimmen unzweifelhaft über ihn sprechen, denen offenbar sein gesamtes Leben bestens bekannt ist …
"Zeit aus den Fugen": In welcher Wirklichkeit befinde ich mich?
Postumer Erfolg dank "Blade Runner"
Philip K. Dick war die wohl schillerndste Persönlichkeit des Science-Fiction-Genres. Sein Leben war eines der Extreme: Mit weit über vierzig Romanen und mehr als hundert Kurzgeschichten war er einer der wohl produktivsten Genreautoren überhaupt, und das, obwohl er mit nur 53 Jahren starb. Ironischerweise wenige Monate vor der Premiere von "Blade Runner", der ersten Verfilmung eines seiner Romane. Obwohl Ridley Scotts düsterer Science-Fiction-Streifen kein kommerzieller Erfolg war und anfangs auch von Kritikern verschmäht wurde, entwickelte sich der Film über die Jahre hinweg zum Kult und zog weitere Verfilmungen Dick'scher Werke nach sich. Mit unterschiedlichem Erfolg: "Minority Report" und "Total Recall" avancierten zu Blockbustern, während etwa "Paycheck" unter der Regie von John Woo floppte. Mit dem Erfolg der Filme stieg auch das Interesse am Gesamtwerk eines Autoren, dessen turbulentes Leben nicht minder interessanter als seine bizarren Geschichten erscheint.
Gerade "Zeit aus den Fugen" – der Titel ist Shakespeares "Hamlet" entlehnt (im Original lautet das Zitat "Time Out of Joint") – ist ein Paradebeispiel für die Irrwitzigkeit seiner Kreativität. Wiewohl sich das klassische Dick-Motiv durch den gesamten Roman zieht, nämlich die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit, greift die Geschichte auf kein anderes seiner Werke zurück. Ermüdende Wiederholungen bekannter Plot-Elemente und ständige Selbstreferenzen, wie sie bei ebenso produktiven Autoren wie Stephen King leider üblich sind, sucht man bei Philip K. Dick vergebens. Jede seiner Geschichten agiert und funktioniert auf einer völlig eigenständigen Ebene und schließt im Falle seiner Short Stories nicht selten mit einer überraschenden Schlusspointe.
Die Truman Show der 1950er Jahre
Eine solche weist "Zeit aus den Fugen" zwar nicht auf, dürfte aber so manchen Leser mit einer radikalen Plotwendung verblüffen. Hierzu muss Folgendes angemerkt werden: Einzelne Elemente aus Dicks Werken wurden inzwischen mal mehr, mal weniger offensichtlich (und vor allem nicht in den Credits gewürdigt!) von Hollywood in diversen Filmen verwurstet. Wer beispielsweise Peter Weirs "Die Truman Show" oder "gesehen hat, wird während der Lektüre von "Zeit aus den Fugen" unweigerlich das eine oder andere Déjà-vu erleben.
Dabei spielt Dick geschickt mit mehreren Erklärungsversuchen für die beunruhigenden Zwischenfälle in Ragle Gumms Leben: Leidet der Protagonist an Psychosen (eine Erfahrung, die der Autor 1974 am eigenen Leib erfuhr) und ist lediglich paranoid? Ist die Kleinstadt Old Town in Wirklichkeit nur eine Fassade, und wenn ja, zu welchem Zweck? Oder befindet sich Ragle in einem täuschend echt wirkenden Alptraum? Die Lösung eines solchen Mysteriums enttäuscht in den meisten Fällen – nicht so bei "Zeit aus den Fugen", wo die Geschehnisse in einen halbwegs nachvollziehbaren Zusammenhang gebracht werden. Und ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: Offenbar ließ sich auch M. Night Shyamalan für "The Village – Das Dorf" von Philip K. Dick gewissermaßen inspirieren.
Klassische Science Fiction: "Zeit aus den Fugen"
Stilistisch bewegt sich der 1959 veröffentlichte Roman in bekannten Bahnen, wobei der Humor späterer Erzählungen und Romane weitgehend fehlt. Die Geschichte liest sich angenehm altmodisch: Es gibt keine Cliffhanger auf jeder zweiten Seite, keine ellenlangen pseudo-wissenschaftlichen Erklärungen, Gewaltexzesse oder eindeutige politische Kommentare. Vielmehr schimmert an vielen Stellen die naive Unschuld klassischer Science-Fiction-Literatur hindurch, verfeinert mit Dicks unfassbarem Ideenreichtum. Die Charakterisierung des Protagonisten ist durchaus gelungen und lässt sein Verhalten, wie auch seine Verzweiflung nachvollziehbar erscheinen. Sicher: Die Kalte-Krieg-Analogien sind in einem Roman der 1950er Jahre praktisch unvermeidbar, stören aber nicht und fügen sich sogar wunderbar stimmig in den Plot ein.
Für Einsteiger in Philip K. Dicks bizarre Welten
Fazit: "Zeit aus den Fugen" ist der ideale Roman für Jungfernflugpassagiere der Philip-K-Dick-Airline. Klar strukturierter Plot, eine spannende Prämisse, eine überraschende Wendung und eine in sich schlüssige Erklärung des Mysteriums ergeben ein rundum gelungenes Lesevergnügen für all jene, die unter Science Fiction nicht per se Weltraumkriege gegen außerirdische Schimmelpilze, in einer Barbie-Traumwelt lebende Marsianer oder paranoide Wachhunde verstehen. Diese Themen bediente Dick nämlich in anderen Werken …
Originaltitel: Time Out of Joint
Autor: Philip K. Dick
Veröffentlichungsjahr: 1959
Seitenanzahl: 288 Seiten
Verlag: Heyne Verlag