Marx und Engels (Bild: Rolf Handke/pixelio.de)

Die Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit

Beginnen möchte ich mit Marx' Verständnis von Arbeit als Grundvoraussetzung der menschlichen Existenz. Das heißt: Für Marx ist Arbeit in einem solchen Grade die Grundbedingung alles menschlichen Lebens, dass man in gewissem Sinne sagen müsste, dass die den Menschen selbst geschaffen hat. Man könnte seiner Meinung nach auch sagen, dass die Menschen anfangen, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ihre Existenzbedingungen durch Arbeit zu sichern.

Durch die Arbeit des Menschen entstehen also Marx zufolge die Gebrauchswerte, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt. Dazu tritt der Mensch in einen Austausch mit der Natur. Indem aber der Mensch durch Arbeit sein materielles Leben produziert, produziert er – so Marx – zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er mit anderen Menschen zusammenlebt und kooperiert, also die Produktionsverhältnisse, aber auch deren Werden und Vergehen, also deren "Geschichte". Das heißt: Für Marx wurzeln auch die Gesellschaftlichkeit des Menschen und seine Fähigkeit, "Geschichte zu machen", in der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit.

Arbeit als Mittel zur Selbstverwirklichung des Menschen

Marx zufolge arbeiten die Menschen jedoch nicht nur, um ihr materielles Leben zu produzieren, um die Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erzeugen, sondern der Mensch sucht - so Marx - in seiner Arbeit auch die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, zur Entfaltung seiner Fähigkeiten und Neigungen, so dass ihm die Arbeit zu einem Bedürfnis wird.

Darin zeigt sich seiner Meinung nach die Bedeutung der Arbeit für die Identitätsbildung des Menschen. Das heißt: Indem das Individuum in der Arbeit seine Möglichkeiten verwirklicht, produziert es einen Gegenstand als Abbild seiner Fähigkeiten, Neigungen und Interessen und gewinnt daraus seine Identität. Aber das identitätsstiftende Potential von Arbeit kann, wie Marx betont, erst dann entfaltet werden, wenn das Individuum, vermittelt über die Produkte seiner Arbeit, in Beziehung zu anderen tritt, die seine Fähigkeiten und Interessen in seinen Produkten wiedererkennen und es damit in seiner Eigenart bestätigen.

Gleichzeitig werden die Individuen, weil sie jeweils in den Produkten der anderen ihre eigenen Fähigkeiten und Interessen verwirklicht sehen, sich damit der Gemeinsamkeit ihrer Identität als Gattungswesen bewusst. Indem also die Individuen in arbeitsteiliger Kooperation Produkte hervorbringen, in diesen Produkten ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse vergegenständlichen und sich gegenseitig in ihrer Selbstverwirklichung bestätigen, entwickeln sie ihre Identität als Individuen und als Gattungswesen.

Die Entfremdung der Arbeit

Grundsätzlich ist der Mensch also Marx zufolge ein "homo laborans", ist Arbeit die Voraussetzung seiner Existenz. Aber die segensreichen Funktionen der Selbstverwirklichung und Identitätsbildung erfüllt Arbeit nicht mehr, wenn sie zu einer entfremdeten Arbeit deformiert wird, wie es – so Marx' grundlegende Erkenntnis – mit der Entfaltung der kapitalistisch organisierten Warenproduktion der Fall ist.

Hier besteht nämlich auf Grund des Privateigentums an den Produktionsmitteln eine Trennung zwischen Eigentum und Arbeit, eine Aufteilung der Gesellschaft in die beiden Klassen der Eigentümer der Produktionsmittel, der Kapitalisten, und der eigentumslosen Arbeiter und damit eine Trennung der Arbeitenden von den Arbeitsbedingungen. Und diese Trennung von den Arbeitsbedingungen impliziert eine Trennung von den Arbeitsprodukten sowie eine Trennung von der produzierenden Tätigkeit selbst.

Das heißt: Entfremdete Arbeit dient nicht der Verwirklichung von Zielvorstellungen der arbeitenden Individuen, sondern fremder Zielvorstellungen, die auf der Grundlage fremder Bedürfnisse und Fähigkeiten entstanden sind. Indem aber die Individuen fremde und nicht ihre eigenen Fähigkeiten und Interessen in ihrer Arbeit verwirklichen, produzieren sie Gegenstände, in denen sie sich nicht wiedererkennen können, die ihnen als eine fremde Macht gegenübertreten, mit denen sie sich deshalb nicht identifizieren können. so dass sie in ihrer Arbeit nicht ihre Identität als Individuen entwickeln können. Ferner können sie sich unter Bedingungen entfremdeter Arbeit auch nicht ihrer Identität als Gattungswesen bewusst werden, weil ihre Kooperation am Arbeitsplatz ebenfalls einem fremden Willen entspringt. Der "Dreh- und Angelpunkt" der Entfremdung der Arbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen aber ist für Marx die Teilung der Arbeit und – damit verbunden – die Trennung von Hand- und Kopfarbeit.

Gleichzeitig sind die Arbeitenden gezwungen, sich diesen Arbeitsbedingungen zu unterwerfen, weil es keine andere Möglichkeit des Broterwerbs gibt. Dementsprechend betrachten die Arbeitenden ihre jeweilige Tätigkeit nur als Mittel zum Zweck, sind ihnen die konkreten Inhalte ihrer Arbeit egal. Die Arbeitenden entwickeln mit anderen Worten eine instrumentelle Arbeitsorientierung.

Selbstverwirklichung auch durch Lohnarbeit?

Die Entfremdung der Arbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen ist jedoch nie total, so dass auch entfremdete Lohnarbeit – zumindest partiell – die Funktionen erfüllen kann, die der nicht-entfremdeten Arbeit zugeschrieben werden kann, insbesondere die Befriedigung des Bedürfnisses, in der Tätigkeit und ihren Produkten etwas von sich wiederzuerkennen. Und zwar ist eine – wenn auch begrenzte – Identifikation mit Arbeitsinhalten deshalb möglich, weil, wie Marx gezeigt hat, im Kapitalismus der Produktionsprozess zugleich Arbeitsprozess und Verwertungsprozess ist.

Das heißt: Zum einen werden durch konkrete nützliche Arbeit Gebrauchswerte produziert. Die Arbeit erscheint hier qualitativ bestimmt nach Zweck und Inhalt. Im Rahmen der kapitalistischen Warenproduktion wird jedoch vom Gebrauchswert der Waren abstrahiert. Sie werden nicht im Hinblick auf ihren späteren Gebrauch produziert, sondern im Hinblick auf ihren Austausch gegen andere Waren auf dem Markt. Sie besitzen also einen Tauschwert, der auf dem Markt realisiert werden soll. Von diesem Verwertungsprozess aus gesehen erscheint die Arbeit nur quantitativ als Zeit, die zur Produktion eines Gutes benötigt wird, sie wird abstrakt.

Da also unter kapitalistischen Produktionsbedingungen der Produktionsprozess gleichzeitig Arbeitsprozess und Verwertungsprozess ist, ist Arbeit gleichzeitig abstrakte und konkrete Arbeit, und dieser Doppelcharakter der Arbeit bietet den Arbeitenden die Möglichkeit, sich zumindest partiell mit den Arbeitsinhalten zu identifizieren und sich folglich in der Arbeit ein Stück weit selbst zu verwirklichen.

Notwendige und frei gewählte Tätigkeit

Wesentlich für Marx' Auffassung von Arbeit ist auch die Unterscheidung zwischen der für die Existenzsicherung der Individuen notwendigen Arbeit und frei gewählter, schöpferischer Tätigkeit. Marx spricht hier auch vom "Reich der Notwendigkeit" und vom "Reich der Freiheit". Das heißt: Im "Reich der Freiheit" finden die Individuen die Zeit, die sie benötigen, um ihre Anlagen und Fähigkeiten voll zu entfalten, sich allseitig zu entwickeln. Dazu gehört – wie es bei Marx heißt – die "künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen", durch die ihnen eine "freie, geistige und gesellschaftliche Betätigung" ermöglicht wird.

Und zwar wird für Marx das Verhältnis zwischen der Zeit, die die Individuen mit der Herstellung der für ihre Bedürfnisbefriedigung notwendigen Gebrauchswerte verbringen, und der für die Individuen frei verwendbaren, von vorgegebenen Zwecken und Zielen unabhängigen, also disponiblen, Zeit bestimmt von der Produktivität der Arbeit, die wiederum abhängig ist vom Stand der Entwicklung der Produktivkräfte.

Das heißt: In dem Maße, wie sich die Produktivkräfte fortentwickeln und damit die Produktivität der Arbeit zunimmt, verringert sich der Anteil der von bestimmten Zielen und Zwecken gebundenen Zeit zugunsten der disponiblen Zeit. Marx drückt dies auch so aus: "Je mehr die Produktivkraft der Arbeit wächst, um so mehr kann der Arbeitstag verkürzt werden". Diese Verkürzung des Arbeitstags setzt jedoch für Marx wiederum eine gleichmäßige Verteilung der – notwendigen – Arbeit unter allen arbeitsfähigen Individuen voraus.

Kommunismus als Aufhebung der Teilung der Arbeit

Ferner ist für Marx eine allseitige und freie Entfaltung der Individuen durch selbstbestimmte Tätigkeit nur vorstellbar, wenn die Teilung der Arbeit aufgehoben wird. Und diese Aufhebung der Teilung der Arbeit vollzieht sich Marx zufolge in einem gesellschaftlichen System, das er als Kommunismus bezeichnet.

Dazu heißt es bei Marx: "Sowie die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (Marx, K./Engels, F., Die Deutsche Ideologie, S. 33)

Im Kommunismus ist also die Teilung und damit die Entfremdung der Arbeit überwunden sowie die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein Mindestmaß reduziert, so dass der Grundsatz gilt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!".

Eine kommunistische Gesellschaft, wie Marx – und Engels – sie sich vorgestellt haben, ist demnach gleichbedeutend mit der Schaffung der Voraussetzungen für die größtmögliche persönliche Freiheit des Menschen und hat folglich wenig zu tun mit den diktatorischen Regimen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet und sich selbst als kommunistisch bezeichnet haben. Man kann deshalb sagen, dass es wohl niemals einen größeren Etikettenschwindel gegeben hat. Aber wie ist es dazu gekommen?

Allseitig entwickelte Persönlichkeit

Allseitig entwickelte Persönlichkeit (Bild: SerenaWong)

Der Kommunismus als Zukunftsvision

Grundsätzlich ist die Vorstellung zurückzuweisen, die Entstehung dieser diktatorischen Regime sei darauf zurückzuführen, dass der Kommunismus an sich eine gute Idee sei, dass diese Idee aber fehlerhaft bzw. von den "falschen Leuten" in die Realität umgesetzt worden sei. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Zeit für die Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne des Kommunismus einfach noch nicht reif war, eben weil die notwendigen technischen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren.

Ich möchte hier daran erinnern, dass der Kommunismus als "Aufblühen des Reichs der Freiheit" erst dann möglich ist, wenn nahezu die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeit durch Maschinen erledigt wird, so dass die Menschen ungestört ihren persönlichen Interessen nachgehen können. Das heißt: Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen sind die Menschen vom Zwang zur Lohnarbeit befreit. Das war und ist noch heute eine Zukunftsvision, wobei sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in den gegenwärtigen "High-Tech-Gesellschaften" Entwicklungen anbahnen, die durchaus irgendwann dazu führen könnten, dass der Mensch die Erzeugung vieler Industriegüter, aber auch die Ausführung von Dienstleistungen an "smarte Maschinen", also an Maschinen delegiert, die über künstliche Intelligenz verfügen – Stichwort "Digitalisierung" - und infolgedessen über einen großen persönlichen Freiraum verfügt.

In diesem Zusammenhang wird auch der Frage des "Eigentums an den Produktionsmitteln", die ja bei Marx im Mittelpunkt seiner Kritik am Kapitalismus stand, neu zu stellen sein. So war es bekanntlich bei den bisherigen Versuchen, an die Stelle des Kapitalismus eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu setzen, immer auch darum gegangen, dieses Problem durch eine Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu lösen, was sich freilich als wenig effektiv oder sogar als contra-produktiv erwiesen hat. Auch diese Frage wird vermutlich weniger wichtig sein oder jedenfalls nicht mehr diese überragende Bedeutung besitzen, wenn die Menschen im kommenden Zeitalter der Digitalisierung auf den noch verbliebenen Arbeitsplätzen in der Industrie und im Dienstleistungsbereich überwiegend anspruchsvolle Tätigkeiten ausüben oder wenn sie verschiedenen Formen einer rein selbstbestimmten Tätigkeit nachgehen.

 

Fazit

Festgehalten werden kann, dass die Überlegungen von Karl Marx zum Begriff der Arbeit, insbesondere zur Bedeutung der Arbeit im Kapitalismus, erstaunlich aktuell erscheinen. Das Gleiche galt bereits - wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (https://pagewizz.com/hatte-karl-marx-doch-recht-27182/) - für seine Analyse der dem Kapitalismus immanenten Krisenhaftigkeit. Mit all dem verbindet sich die Frage nach der Zukunft des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Vorstellbar wären hier grundlegende Veränderungen infolge des technologischen Fortschritts oder auch aufgrund der ökologischen Grenzen des Wachstums, wobei auch die Rezeption von Elementen eines freiheitlichen Kommunismus, wie Marx und Engels ihn verstehen, nicht auszuschließen ist.

Quellennachweis:

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 3 (darin: Die Deutsche Ideologie)

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 19 (darin: Kritik des Gothaer Programms)

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 20 (darin: Dialektik der Natur, "Anti-Dühring")

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 23 (darin: Das Kapital, Band I)

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 25 (darin: Das Kapital, Band III)

Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, Teil I (darin: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte)

Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie

Bildnachweis:

Rolf Handke/pixelio.de

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