Die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland - "Voetbal totaal" verliert
Die Niederländer spielten anerkanntermaßen den schönsten Fußball - es half ihnen nichtQualifikation und Austragungsmodus des Turniers
Qualifikation
Bei den europäischen Qualifikationsrunden gab es mehrere Überraschungen: England schied gegen Polen aus, Portugal scheiterte ebenso wie Spanien. Die sowjetische Mannschaft scheiterte an Chile; sie war aus politischen Gründen nach dem Hinspiel in Moskau (0:0) nicht zum Rückspiel in Santiago angetreten. Das Spiel wurde daraufhin mit 2:0 für Chile gewertet.
In der Mittel- und Nordamerika - Qualifikation schied Mexiko gegen Haiti und gegen Trinidad und Tobago aus, die wie auch die DDR, Australien und Zaire erstmals an einer WM teilnahmen.
Veränderter Austragungsmodus des Turniers
Da Turnier wurde mit 16 Mannschaften in vier Gruppen ausgetragen. Aber anders als bei den vorherigen drei Turnieren gab es keine K.o.-Spiele mehr. Stattdessen wurde nach den Gruppenspielen eine zweite Gruppenphase ("Zwischenrunde") mit jeweils 4 Mannschaften gespielt. Für die Zwischenrunde qualifizierten sich die Gruppenersten und -zweiten der einzelnen Vorrunden-Gruppen. Damit sollte verhindert werden, dass die m stärksten eingeschätzten Mannschaften möglichst lange im Turnier verbleiben und Favoritenstürze weitgehend ausgeschlossen werden sollten.
"Echte" Halbfinalspiele gab es nicht. Die Zweitplatzierten der Zwischenrundengruppen spielten dann den dritten Platz aus; die Gruppensieger standen im Finale.
Die Gruppenspiele mit dem "deutsch-deutschen Duell"
In der Gruppe 1 kam es zum "deutsch-deutschen Duell", dem einzigen Aufeinandertreffen der A-Mannschaften der beiden deutschen Teams. Sensationell siegte die DDR - Mannschaft durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 1:0 und gewann damit überraschend die "deutsch - deutsche" Gruppe. Ein Sieg, der Folgen haben sollte.
In der Gruppe 2 setzten sich Jugoslawien und Brasilien durch. Bitter war das Ausscheiden Schottlands. Ungeschlagen, aber mit der um ein Tor schlechteren Tordifferenz fuhr die Mannschaft nach Hause. Aufgrund der Tordifferenz wurde Brasilien nur Gruppenzweiter.
In Gruppe 3 setzten sich die Niederlande vor Schweden durch, wobei erstere die einzige aller Mannschaften des Turniers waren, die von Anfang an überzeugenden Fußball spielte und nach der Gruppenphase als Topfavorit auf den Titel gehandelt wurde.
In der Gruppe 4 kam es zur ersten Sensation des Turniers: Italien, einer der großen Titelfavoriten schied aufgrund der schlechteren Tordifferenz gegen Argentinien aus. Polen überraschte mit drei Siegen und gewann die Gruppe.
Die Spiele der Zwischenrunde mit der "Wasserschlacht von Frankfurt"
Die Besetzung der beiden Gruppen, die sich nach den (teilweise überraschend verlaufenden) Gruppenspielen ergab, war für die bundesdeutsche Mannschaft von Vorteil. Während sie sich mit Polen, Schweden und Jugoslawien auseinandersetzen musste, trafen in der anderen Gruppe mit Brasilien, Argentinien und den Niederlanden gleich drei Schwergewichte aufeinander; vervollständigt wurde die Gruppe durch die Mannschaft der DDR. Hätte sie die bundesdeutsche Mannschaft nicht im Gruppenspiel geschlagen, hätte die Bundesdeutsche Mannschaft in dieser weitaus schweren Gruppe spielen müssen und die DDR-Mannschaft die wesentlich einfachere Gruppe erwischt.
Die Niederlande gewannen diese schwere Gruppe mit drei Siegen und ohne Gegentor und wurden damit endgültig zum Favoriten für das Finale. Brasilien wurde Gruppenzweiter und platzierte sich damit für das Spiel um Platz drei.
Die andere Gruppe gewann Deutschland ebenfalls verlustpunktfrei. Im entscheidenden Spiel um den Gruppensieg gegen Polen kam es nach mehreren Wolkenbrüchen zu der "Wasserschlacht von Frankfurt". Mit Walzen versuchte die Feuerwehr so viel Wasser wie möglich vom Platz zu verdrängen. Im Grunde war der Platz trotzdem unbespielbar. Für die bundesdeutsche Mannschaft waren die irregulären Platzverhältnisse von Vorteil, da die Polen ihre unbestrittene technische Überlegung nicht ausspielen konnten.
Die Finalspiele
Spiel um Platz drei
Nach der Finalrunde spielten die beiden Gruppenzweiten den dritten Platz aus. Dabei gewann Polen gegen Brasilien 1:0.
Finale - "Voetbal totaal" gegen mannschaftliche Disziplin
Die Niederländer gingen bereits in der 2. Minute durch einen verwandelten Elfmeter in Führung. Die deutsche Mannschaft hatte bis dahin noch nicht einmal den Ball berührt.
Zunächst wirkte der Gastgeber geschockt, kam dann aber besser ins Spiel. In der 25. Minute verwandelte Breitner einen umstrittenen Elfmeter, der an Hölzenbein verursacht worden war. Danach war die deutsche Mannschaft überlegen und erhöhte Gerd Müller auf noch vor der Pause 2:1.
In der zweiten Halbzeit waren die Niederländer klar die bessere Mannschaft und zwangen die Deutschen zu einer reinen Abwehrschlacht. Die Niederländer scheiterten aber zum einen immer wieder an Torwart Sepp Maier. Müller erzielte in der 59. Minute ein drittes Tor für die Deutschen, das Tor wurde aber fälschlicherweise wegen einer angeblichen Abseitsstellung nicht anerkannt.
Die Niederländer scheiterten allerdings im Wesentlichen aus zwei Gründen. Zum einen wurde ihr Spielmacher Johan Cruyff durch konsequente Manndeckung weitgehend neutralisiert, zum anderen wirkte die niederländische Spielweise arrogant und über das schöne Spiel wurde die nötige Effektivität vernachlässigt.
Langfristig die wichtigste taktische Neuerung: "Voetbal totaal"
Dieses Spielsystem, bei dem kein Spieler eine feste Position einnehmen soll, wurde, hatte man in dieser Form noch nicht bei einem WM-Turnier gesehen. Erstmal praktiziert wurde sie von Ajax Amsterdam; das damit den Europapokal der Landesmeister dreimal in Folge gewann. Die dahinter stehende Spielphilosophie wurde später von Mannschaften wie dem FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft übernommen und weiterentwickelt. Letztlich beruht der "Tiki-Taka"-Fußball der spanischen Mannschaften auf diesem Spielsystem; Spanien gewann mit diesem System die Europameisterschaft 2008 und die WM 2010.
Hin und wieder wird dieses Spielsystem auch mit dem des österreichischen "Wunderteams" der dreißiger Jahre verglichen. Auch die ungarische Mannschaft, die weitgehend den Fußball der fünfziger Jahre dominierte (aber sensationell das WM-Final 1954 verlor), zeigte bereits taktische Ansätze des "Voetbal totaal".
Bildquelle:
Bild: freestockgallery.de
(Wendepunkte der Geschichte – was wäre gewesen, wenn?)