Fakultative Geschichtsschreibung: Was ist das?

Sie gilt als die heimliche Lieblingsfrage unter den Historikern: Was für Konsequenzen hätten sich ergeben können, wenn historisch bedeutende Ereignisse anders verlaufen wären? Oder was für Auswirkungen fast alltägliche Ereignisse nach sich ziehen können? Solche Spekulationen sind durchaus reizvoll, wie die folgenden drei Beispiele zeigen.

Eine Weltreligion weniger

Pilatus stimmte der Kreuzigung Jesu zu – er hätte dies aber nicht tun müssen. Hätte er ihn verschont, würde es das Christentum in der heutigen Form nicht geben, da die Kreuzigung zentraler Bestandteil des Christentums ist.

Stattdessen hätten vermutlich einige christliche Anschauungen das Judentum, wie wir es heute kennen, ergänzt.

Auch das römische Reich hätte sich ohne die Kreuzigung ganz anders entwickelt; nicht zuletzt, weil das Christentum nie römische Staatsreligion geworden wäre.

Die Kreuzzüge hätten niemals stattgefunden; damit wäre eine wesentliche Ursache für die jahrhundertelangen Konflikte im Nahen Osten entfallen. Die Geschichte des gesamten Nahen Ostens wäre völlig anders verlaufen.

China als Großmacht zur See

Auf die Frage, wer im 15. Jahrhundert die bedeutendste Weltmacht zur See war, erhält man meist die Antwort "Spanien" oder "Portugal". Beide Antworten sind falsch; die eigentlich korrekte Antwort ist "China".

Admiral Cheng Ho, der bedeutendste chinesische Seefahrer, hat zwischen 1405 und 1433 den gesamten Indischen Ozean befahren. Er erreichte die afrikanische Ostküste, den Persischen Golf, das Rote Meer, Madagaskar und möglicherweise auch Australien.

Auf diesen Reisen kommandierte er Flotten von mehreren hundert Schiffen, von denen manche etwa fünfmal so groß wie die Schiffe waren, mit denen Kolumbus den Atlantik überquerte.

Doch ab 1433 beschlossen die Ming-Kaiser, diese Expeditionen einzustellen; vermutlich wegen der alten konfuzianische Einstellung "Die Außenwelt hat China nichts zu bieten, dort leben nur Barbaren".

Im Jahr 1436 wurde durch ein kaiserliches Dekret der Bau hochseetauglicher Schiffe verboten. Bis 1503 war die chinesische Flotte auf ein Zehntel ihres ursprünglichen Bestandes geschrumpft.

Die Chance zur Öffnung nach außen war für Jahrhunderte vertan.

Aber was wäre passiert, wenn China die Öffnung nach außen weiter betrieben hätte? Als Nächstes hatten sie wohl quasi vor der eigenen Haustür nähere Erkundungen in Angriff genommen. Dabei wären sie zwangsläufig auf Japan und daran anschließend auf Alaska gestoßen. Danach die amerikanische Küste nach Süden zu erkunden, wäre für sie kein Problem gewesen. Nord- und Südamerika wären dann sicherlich eher asiatisch als europäisch geprägt worden.

Ein (un)bedeutender Verkehrsunfall

1931 wurde in New York ein Fußgänger von einem Taxi angefahren und leicht verletzt. Das Unfallopfer hatte Glück; es hätte genauso gut tot sein können.

 Das Unfallopfer war Winston Churchill – Sekundenbruchteile haben darüber entschieden, ob Großbritannien einen anderen Kriegspremier gehabt hätte oder nicht.

 Nachdem 1940 Frankreich kapituliert hatte, stand Großbritannien dem deutschen Reich allein und ohne ausreichend gerüstete Armee gegenüber. Der damalige Regierungschef Chamberlain hatte zwar zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns seine Appeasement-Politik aufgegeben. Aber angesichts dieser militärischen Situation hätte er sie möglicherweise wieder aufgenommen. Dann wäre der Kriegsverlauf in Europa ein ganz anderer gewesen.

Ist "fakultative Geschichtsschreibung" überhaupt sinnvoll?

Bei diesen drei Beispielen könnte man die Spekulationen noch wesentlich intensivieren – und man kann noch viele andere Wendepunkte der Geschichte nennen, die ebenfalls zu ähnlichen Überlegungen einladen. Beispiele gibt es zuhauf, als Anregung seien noch zwei genannt:

Was wäre geschehen, wenn Hitler das Attentat im Bürgerbräukeller 1938 nicht überlebt hätte? Er hatte den Bürgerbräukeller viel früher als erwartet verlassen.

Was wäre geschehen, wenn Luther verhaftet und verbrannt worden wäre, obwohl man ihm freies Geleit zugesichert hatte? Genauso war es rund hundert Jahre zuvor dem Reformator Johannes Hus ergangen.

Die daraus folgenden Spekulationen mögen insoweit sinnlos erscheinen, weil die tatsächlichen Auswirkungen natürlich nie in mehr oder weniger vollem Umfang geklärt werden können.

Aber solche Überlegungen anzustellen, kann nicht nur spannend sein, es hilft durchaus auch, um (vor allem langfristige) geschichtliche Zusammenhänge besser zu verstehen.

Kettenhund, am 24.07.2018


Bildquelle:
Quelle: siepmannH/pixelio.de (Die Fußball-Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay - Wie alles begann)

Laden ...
Fehler!