Das Verschwinden der Prinzen

Die Knaben sind Edward V., nominell König von England, sowie sein drei Jahre jüngerer Bruder Richard. Als ihr Vater, König Edward IV., im Jahr 1483 stirbt, übernimmt dessen Bruder, der Herzog von Gloucester, die Regentschaft. Dies bedeutet eigentlich nur eine Art Vormundschaft über den minderjährigen Kronprinz Edward V., der von seinem Vater bereits ausdrücklich zum Thronfolger bestimmt worden war. Doch der Herzog von Gloucester siedelt die Prinzen in den Londoner Tower um, welcher seit jeher gleichzeitig als Festung, Palast und Gefängnis diente. Dann lässt er durch das Parlament die Prinzen von der Thronfolge ausschließen. Die nicht gänzlich von der Hand zu weisende Begründung lautet: Die Knaben sind Bastarde, da die Ehe ihrer Eltern nicht rechtskräftig war. Der Herzog übernimmt daher nun selbst den Königstitel und nennt sich Richard III. Die Prinzen hingegen werden fortan nicht mehr gesehen.

Ein grausiger Fund

Im Volk munkelt man bald, Richard hätte seine Neffen ermorden lassen. Der König tut nichts, um das Gegenteil zu beweisen. Vielleicht kann er aber auch nichts mehr tun... Die Kinder bleiben verschollen. 191 Jahre später werden bei Umbauarbeiten im Tower menschliche Knochen entdeckt, was in der auch als Gefängnis fungierenden Festung sicherlich keine Seltenheit war. Diese Skelette jedoch befinden sich in einer Holzkiste. Dennoch landet der Fund zunächst im Müll, ehe man auf die Idee kommt, es könne sich um die Überreste der Prinzen handeln. Daraufhin werden die Knochen in einer Urne verstaut und in der Westminster Abbey beigesetzt. Erst 1933 graben Wissenschaftler die Knochenreste wieder aus, untersuchen sie und stellen fest: Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich tatsächlich um die Skelette zweier Kinder unterschiedlichen Alters zwischen zehn und dreizehn Jahren. Allerdings lässt sich das Geschlecht nicht mehr bestimmen.

Ließ Richard III. die Prinzen ermorden?

Die Vermutung, dass es sich wirklich um die Skelette von Edward und Richard handelt, liegt nach diesem Befund ebenso nahe wie die Schlussfolgerung, dass beide Opfer eines Verbrechens wurden. Unter Annahme dieser Hypothesen stellt sich nun natürlich die Frage nach dem Mörder beziehungsweise seinem Auftraggeber.

Seit dem Verschwinden der Prinzen gilt bis heute vor allem Richard III. als Hauptverdächtiger. Doch was wäre sein Motiv gewesen? Immerhin waren die Knaben ja bereits rechtskräftig von der Thronfolge ausgeschlossen und zudem hinter Schloss und Riegel... Allerdings erschien die diesbezügliche Entscheidung des Parlaments recht fraglich, denn eine uneheliche Abstammung war für Thronanwärter eigentlich kein Hinderungsgrund, wie die Geschichte Englands mehrfach bestätigte. Eine potenzielle Gefahr waren die Jungen für Richard also trotzdem. Warum im Falle ihrer Ermordung aber die Knochen in einer Holzkiste verwahrt wurden, erschließt sich bei logischer Herangehensweise nicht. Richard (oder einem anderen Auftraggeber) hätte vielmehr daran gelegen sein müssen, dass keine Spuren des Doppelmords zurückbleiben.

Unter Verdacht: Ein weiterer König

Obwohl die Umstände unwillkürlich auf eine mittelbare oder sogar direkte Täterschaft des Königs schließen lassen, gibt es noch einige andere Verdächtige. Die meisten von ihnen stammen aber aus dem Umfeld von Richard III., wodurch die Sachlage also nicht wirklich verändert wird.

Jedoch gibt es noch einen weiteren Verdächtigen mit starkem Motiv. Sein Name: Heinrich VII., Begründer der Tudor-Dynastie und Nachfolger Richard III. auf dem englischen Königsthron.

Um das eventuelle Mordmotiv dieses Mannes zu verstehen, ist ein Blick auf die politischen Verhältnisse der fraglichen Zeit nötig. Als die Prinzen aus der Öffentlichkeit verschwanden, litt England bereits seit 28 Jahren unter den sogenannten Rosenkriegen, einer Reihe von Erbfolgekämpfen zwischen den königlichen Familienzweigen Lancaster und York. Richard III. gehörte dem Haus York an, verlor im Jahr 1485 (also zwei Jahre nach Verschwinden der Prinzen) jedoch durch Heinrich Tudor Krone und Leben. Heinrich gehörte einer Nebenlinie des eigentlich untergegangenen Hauses Lancaster an und begründete damit seinen Anspruch auf den Thron.

Heinrichs Motiv für die Ermordung der Prinzen Edward und Richard lag also auf der Hand: Die beiden York-Sprösslinge stellten durch ihren ebenbürtigen Thronanspruch für Heinrich eine dauerhafte Gefährdung dar. Tatsächlich behaupteten in den folgenden Jahren mehrere Personen von sich, der legitime Thronerbe Edward V. zu sein. Wirklich überzeugende Anwärter gab es allerdings nicht.

Freispruch für Heinrich? Ein Zweifel bleibt!

Die These, Heinrich sei der Prinzenmörder, setzt allerdings voraus, dass die Knaben 1485, im Jahr der Thronbesteigung Heinrichs, noch lebten. Ihr mysteriöses Verschwinden wird allerdings eindeutig in das Jahr 1483 datiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte der im Exil lebende Heinrich keine Möglichkeit, den Doppelmord auszuführen. Theoretisch könnten die Prinzen natürlich 1485 trotzdem noch gelebt haben, weshalb Heinrich Tudor weiterhin unter Verdacht bleibt.

Gegen Heinrich spricht zudem die Tatsache, dass er eine gewisse Elisabeth aus dem von ihm besiegten Haus York heiratete. Jene Elisabeth war die Schwester der verschwundenen Prinzen! Die damit verbundene, endgültige Legitimierung seines erbrechtlichen Thronanspruchs machte für Heinrich jedoch nur Sinn, wenn der Tod der York-Thronfolger für ihn ein sicherer Fakt war...

Vor den Augen der Nachwelt sicherte sich Heinrich VII. jedoch geschickt gegen eventuelle Verdächtigungen ab: Richard III., unterlegener Gegner Heinrich Tudors, verdankt sein heute negatives Image vor allem den wenig sachlichen Chroniken der Tudorzeit. Auch aus diesem Grund wird Richard III. wohl auch weiterhin als Mörder der Prinzen gelten, immer vorausgesetzt natürlich, die Knaben wurden tatsächlich getötet...

Donky, am 10.01.2017
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