Vor Liebe blind?

Neben dem Nucleus accumbens, einem zentralen Player im mesolimbischen "Belohnungssystem" des Gehirns, macht sich der vordere cinguläre Cortex bemerkbar. Der spielt eine Rolle bei der Erkennung von Emotionen und Aufmerksamkeit. 

Das Striatum, bestehend aus Nucleus caudatus und Putamen wiederum soll an der erotischen Erregung beteiligt sein. Die auch einen kleinen Bereich im mittleren Kleinhirn aktiviert. 

Während so die Erregungszonen der verliebten Testpersonen aktiv werden, kommen die Impulse in weiten Teilen der Grosshirnrinde zum Erliegen. Daraus zu schliessen, dass den Verliebten die Urteilsfähigkeit abhanden kommt, wäre aber voreilig. 

"Vor Liebe blind" lässt sich nicht zwingend aus den Gehirnaktivitäten herauslesen. Auch die Deaktivierung der Amygdala, die an Angstzuständen beteiligt ist, lässt nicht auf eine grundsätzliche Angstfreiheit von Verliebten schliessen. 

Zumal aus der Erregung von bestimmten Gehirnarealen ja immer nur deren Beteiligung während bestimmter Zustände ablesbar ist. Was nicht heisst, dass sie diese Zustände verursachen.

Ist Liebe tomographisch betrachtet eine Zwangsstörung?

Da sind auch noch die Hormone. Dopamin wird die Verantwortung für die Erregung des Nucleus accumbens zugeschrieben. Wer aber gibt den Befehl, dass der Hypothalamus Dopamin dorthin auf den Weg bringt? Und nicht nur Dopamin schüttet der Hypothalamus der verliebten Testpersonen aus, sondern auch Phenylethylamin und Adrenalin. 

Semir Zeki meint, geradezu rauschartige Zustände feststellen zu können, an denen auch Endorphine beteiligt sind. Im frontalen Cortex kommt es zu einer Abschaltung des rationalen Denkens. Serotonin zügelt neben dem Appetit, der Verliebten regelmässig abhanden kommt, auch Ängste.

Der Ausnahmezustand im Hirn ist durchaus einer Zwangsstörung vergleichbar. Liebe und manische Überspanntheit sind tomographisch kaum zu unterscheiden. Messen wir noch Sexualität oder schon Liebe? 

Beim Orgasmus gibt es keine zwei Meinungen: in ihm kulminiert die Sexualität. Weitere Hormone sind massgeblich beteiligt. Testosteron und Östrogen sorgen für das Lustempfinden. Oxytocin und Vasopressin steigern die Lust und fügen noch einen Schuss Aggression hinzu. Und die Liebe?

Was aber schon für die neuronalen Hirnregionen galt, gilt auch für die Hormone. Sie sind beteiligt, aber nicht zwingend verantwortlich. Zudem ist die Frage, ob all diese neuronalen und biochemischen Vorgänge eine Folge der Verliebtheit sind oder ob sie diese auslösen.

Wenn sie die Liebe auslösen, läge die Versuchung nahe, die Liebe als eine körperliche Funktion abzutun. Sind sie aber eine Folge, was ist dann die Ursache?

Daten mit begrenztem Erkenntniswert

Die Wissenschaft ist erst einmal hochzufrieden, ihre teuren Tomographen mit neuen Experimenten zu füttern. Leidenschaftslos und vorurteilsfrei sammelt sie zunächst einmal Daten. 

Folge oder Ursache? So weit ist man noch lange nicht. Bis dahin darf munter spekuliert werden. Daran beteiligt sich der seriöse Wissenschaftler nicht. Er beschränkt sich auf die Daten. 

Was die Hormone betrifft, so wird munter von "Ausschütten" schwadroniert. Wer wann was wo und warum ausschüttet, bleibt weitgehend offen. 

Die Daten liefern die Analysen von Blutproben oder Proben anderer Körperflüssigkeiten. In denen kann man die vermehrte oder verminderte Anwesenheit von Hormonen feststellen. Anders als bei neuronalen Gehirnaktivitäten kann das aber nur zeitversetzt geschehen. 

Noch gibt es keine endokrinologische Apparatur, die Hypophyse, Hypothalamus, Darmzotten oder Bauchspeicheldrüse dabei beobachtet, wie sie Hormone ausschütten. Und auch noch erkennt, um welche Hormone in welcher Konzentration es sich dabei handelt. Geschweige denn, was sie zum Zeitpunkt ihrer Ausschüttung bewirken.

Liebe und Mitgefühl drehen dem Tomographen eine Nase

Was liefern uns all diese Daten an Erkenntnissen über die Liebe? Die Messergebnisse beschreiben weitgehend sexuelle Phänomene. 

Der Verdacht drängt sich auf, dass der Begriff Liebe aus Marketinggründen strapaziert wird. Um den Bemühungen der Wissenschaftler eine höhere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Für das psychologische Phänomen Liebe leisten die physiologischen Erkenntnisse wenig Greifbares. 

Die von aller Sexualität gereinigte Liebe entzieht sich. Vergeblich fischen wir nach ihr in der unermesslichen Datenflut. Auch die bescheidene Schwester der Liebe, das Mitgefühl, hat keine erkennbaren Spuren hinterlassen.

Physiologische Daten zu Liebe und Mitgefühl? Fehlanzeige. Trotz allen medialen Traras.

 

 

 

 

 

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