Tyler Childers – Kentucky-Country
Seit dem Nr.1-Erfolg seines letzten Albums "Country Squire" gehört Tyler Childers endgültig zu den Großen der modernen Country-Musik.Tyler Childers at Hinterland Music Festival, St. Charles, IA 8/4/18 (Bild: Roberta)
Er und seine Frau, die Sängerin und Songwriterin Senora May, haben sich inzwischen sogar ein Stück Land gekauft. Und nach Nashville umzusiedeln, was angesichts seines Erfolges ja eigentlich nahe liegen würde, kommt deshalb nicht in Frage, weil Nashville sich in eine moderne Metropole verwandelt hat, wo sie seiner Meinung nach im Niemandsland angesiedelte Songs schreiben, wie er in einem Interview (1.8.2019, Guardian online) erklärte: "Es macht keinen Sinn, in eine der am schnellsten wachsenden Städte in der Nation zu ziehen und mit 12 anderen in einem Raum zu sitzen und einen Country-Song zu schreiben. Die singen alle von 'dem Ort die Straße runter', aber was ist das denn jetzt für ein Ort?"
In Childers lebt aber auch die ganze lange Kentucky-Musiktradition weiter. Als er jung war, hörte er Ricky Skaggs, Keith Whitley, diese Mischung aus Bluegrass und Country, die sich ebenfalls bei ihm findet. Dwight Yoakam stammt aus Kentucky, hat Lieder über Minenarbeiter geschrieben wie "Readin', Rightin', Route 23". In der Nähe dieser berühmten Route 23 ist Childers aufgewachsen. Bücher und Literatur gehören auch zu seinen Einflüssen. Er ist Teil der Tradition von Sängern, die ihre Songs oft wie Kurzgeschichten schreiben, so wie Kris Kristofferson, Tom T. Hall, und es ist passend, dass gerade John Prine ein Fan von Childers ist. Die beiden haben ein Lied zusammen aufgenommen.
Die Songs auf seinem ersten selbst produzierten Album "Bottles and Bibles" (2011) bezeichnet Childers heute als bessere Demos. 2014 veröffentlichte er zwei EPs, die auf der CD "Live on Red Barn Radio I+II" enthalten sind. Zwei weitere Alben machten ihn zu einer Größe in der Country-Musik. "Purgatory" (2017) bedeutete den Durchbruch. "Country Squire" (2019) steigerte das noch, indem es im August aus dem Nichts für eine Woche auf Platz 1 der Billboard-Country-Charts sprang. Childers hatte seinen ersten Auftritt in der Grand Ole Opry. Aber allein Persönlichkeit und gute Songs haben nicht den großen Erfolg gebracht. Es ist wie so oft eine Frage des Sounds. Für "Purgatory" und jetzt auch "Country Squire" hatte Childers namhafte Produzenten in Gestalt von Sturgill Simpson – übrigens auch aus Kentucky – und Tontechniker David Ferguson, besonders bekannt für seine Arbeit an den "American Recordings"-Alben von Johnny Cash. Die beiden sowie handverlesene Studiomusiker verpassten Childers einen subtil instrumentierten folkigen Country mit passenden modernen Elementen hier und dort.
"Purgatory" erzählte in einigen Songs den Weg eines wilden, selbstzerstörerischen jungen Mannes in den Hafen der Ehe, den Weg vom Fegefeuer zur Erlösung durch die Frau. Die neun Songs von "Country Squire" nun werden besonders bestimmt durch Liebeslieder voller Sehnsucht, natürliches Ergebnis des Lebens eines glücklich verheirateten Musikers, das nicht mehr nur in der näheren Umgebung, sondern in den ganzen USA und auch außerhalb stattfindet. Der schnelle Titelsong "Country Squire" erträumt sich Zweisamkeit in dem holzvertäfelten Wohnwagen, den er selbst ausbaut. Oder "Ever lovin' hand", im weiteren Sinne ein Lied über eheliche Treue, Verpflichtung und im engeren Sinne ein eher seltenes Beispiel für einen hochromantischen Wichs-Song: "I have got you on my mind / and my ever lovin' hand". Dass der innere Dämon in seinem gespaltenen Wesen noch da ist, davon handelt "Gemini", also "Zwillinge", das Sternzeichen Childers mit seinem Geburtstag am 21. Juni: "A part of me just wants to live forever on the road". Vom Schwarm der Kindheit und Jugend handelt "Bus Route", auch wenn das Mädchen, hinter dem man immer her war, am Anfang nicht so entgegenkommend war: "And she walked right over me / Face-down in the gum on the floor". In "Creeker" leidet ein einsamer Country-Boy an der Großstadt. Und "Matthew" ist ein einfacher Song über Familienmitglieder.
Dass er viele Lieder vor der Aufnahme im Studio teilweise jahrelang auf seinen Konzerten gesungen hat, kann für eingefleischte Fans schon manchmal etwas gewöhnungsbedürftig sein. Denn es gibt oft einen Unterschied zwischen live und Studio. Alleine kann Childers noch schmerzerfüllter, intensiver klingen. Alleine mit Gitarre liegen die ganze Energie und die Gefühle besonders in der Stimme. Man höre sich auf YouTube an, wie er aus zwei sehr sanften Songs wie Kris Kristoffersons "Help me make it through the night" und Willie Nelsons "Time of the Preacher" live einen kraftvollen, seelentiefen Hillbilly-Blues herausholt. Nimmt man dann eines seiner eigenen Lieder, das wunderschöne "Peace of Mind", dann hört man aber auch, was die Produktion den Liedern noch hinzufügen kann. "Peace of Mind" ist ein präzis-poetischer Beobachtungs-Song über ein Ehepaar mit Cheerleader-Tochter, wo der Alltag mit Arbeit, Routine und Stress vollgestopft ist. Live hat Childers es relativ schnell, fast ein bisschen gehetzt gesungen, was den Alltagsdruck gut wiedergibt. Jetzt auf dem "Country Squire"-Album ist es ein unglaublich entspannter Song im wiegenden Walzerrhythmus. Eine gewisse Melancholie, Traurigkeit liegen darin, aber man spürt auch den Frieden, nach dem man sich hier sehnt. So wie der Mann sehnsuchtsvoll an das Marihuana vor der Ehe denkt: "But the day that he retires, he will smoke himself to China / He will leave behind his worries as he races through the sky".