Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Naomi ist 25, Großstädter und Krankenpfleger; Franz 62, vom Land und Lehrer; Steffen ist 32 Jahre alt, kommt aus der Provinz, wohnt in der Stadt und ist Techniker. Sie eint eines: Sie sind MPS-Fans, Fans von Mittelalter-Musik und Mittelalter-Märkten. Schon das ist nicht ganz korrekt ausgedrückt, aber dazu später mehr.

 

Weltenkrieger, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Feuershow, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Mittelalter-Events: Rückwärtsgewandte Sehnsucht?

Im Sommer kettelt Steffen im Garten sein Kettenhemd aus gefühlten neunhundertneunundneunzigtausend Ringen, malt liebevoll die Logos von Mittelalter-Bands in ein Autogrammbüchlein, fährt auf Festivals, kämpft in gigantischen Rollenspielschlachten irgendwo auf einem Acker. Und im Winter geht er zum Mittelalter-Weihnachtsmarkt im Fredenbaumpark in Dortmund.

Warum nur?! Ist das alles nicht nur Ausdruck einer rückwärtsgewandten Haltung? Sehnsucht nach einem Mittelalter, das es ja so gar nicht gab?

Steffen nimmt sich Zeit, um dem Autor einiges zu erklären. Gut, geht er in die Offensive: Es ist Eskapismus, eine Flucht aus dem Alltag. Aber Eskapismus ist verbreitet, und es gibt ihn in vielen Spielarten: mittels Drogen, Alkohol, Seriengucken, exzessivem Computerspielen ... All das kann eine Form des Entkommen aus dem Alltag sein. So, wie auch Bücherlesen Eskapismus ist.

Nun, das stimmt nicht immer, denn gelesen wird sicher nicht nur, um aus dieser in eine bessere Welt zu flüchten, weswegen Liebesromane noch nie und Western seit mindestens 40 Jahren nicht mehr zum Repertoire des Autors dieser Zeilen gehören. 

Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Waffen fürs Re-Enactment, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Eingang in eine Phantasie-Welt

Aber Steffens Hinweis ist gut: Denn das, was da auf den Mittelalter-Märkten zelebriert wird, hat ja tatsächlich vor allem mit der Vorstellung der heutigen Menschen vom Mittelalter zu tun. Es ist der Eintritt in eine andere, eine Phantasiewelt – und in dieser Hinsicht hat es auch viel mit dem Lesen von Literatur gemeinsam. Es gilt also, nicht Rückwärtsgewandtheit und Eskapismus gleichzusetzen.

Einer der großen deutschen Veranstalter in dem Genre nennt die eigenen Märkte daher auch MPS, Mittelalterlich Phantasie Spectaculum, auch schon sprachlich ein Phantasie-Mittelalterlich. "Nicht authentisch, sondern phantastisch" lautet ihr treffendes Motto.

Und wer sagt, dass das Mittelalter und was dort dargestellt wird, rückwärts ist? Sicher, ein Stück weit hängen Sehnsüchte dahinter, meint Steffen weiter, Sehnsüchte nach der guten alten Zeit, eine Zeit, die weniger komplex war, ohne Ausbeutung und Massenanfertigung.

Also, was macht dann die Anziehungskraft dieser Mittelalter-Veranstaltungen aus? Gut, das, was dort geboten wird, ist nicht das Mittelalter von vor 700 Jahren. Vielleicht eher eine Projektion, eine Vorstellung vom Mittelalter aus heutiger Sicht?

Nicht authentisch, sondern phantastisch

Als Projektion, als Vorstellung ist es auch ein Teil der heutigen Realität, zudem ist es Teil unserer Geschichte, denn einiges aus dem Mittelalter gilt ja heute immer noch. Deswegen nehmen die Stände mit Handwerkskunst einen großen Teil der Märkte ein. Steffen kann sich vorstellen, dass es irgendwann wieder einmal dazu kommt, dass man mehr hand-werklich herstellt. Für viele ist es eine idealisierte Wurzel unserer Kultur. Menschen versuchen dort, einen Teil unserer Geschichte, unserer Handwerksgeschichte, nachzuleben und möglichst genau nachzuempfinden, wie zu einem Zeitpunkt vor tausend Jahren gelebt wurde, das genau ist ja das Re-Enactment: "Living history", Wiederaufführung oder Nachstellung der Geschichte.

Ein Stern-Artikel von J. Gernert geht dem "Trend Mittelalter" ebenfalls nach: "Die Faszination, sagt er [Clemens Richter, Autor zum Thema], liege vor allem darin, dass die heutige Zeit sehr unübersichtlich wirke, die damalige vielen dagegen 'einfacher, klarer und strukturierter' vorkomme. Von heute aus betrachtet. In ihren Wunschidentitäten der Edelmänner, Ritter, Zauberer, Hexen oder Bauern fänden die Leute 'eine selbstbestimmtere Rolle'. ...Es geht um Geschichte und Entertainment. Überall spielen Darsteller den Besuchern vor allem deren eigene Mittelalter-Fantasien vor."

Harmony Glen, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Versengold, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Romantik und Power

Und davon gibt es jede Menge. Bestimmte Typen und Angebote werden heute offenbar mit dem Thema Mittelalter verbunden: Ritter, Piraten, Lumpengesindel, Handwerksgesellen, Krämer, aber auch ein Falkner gehört fast immer zum Angebot. Und - wohl weil es damals noch keine Elektrik gab:-) - alles, was mit Feuer zu tun hat. Nicht ohne Grund ist die Feuershow eines der Highlights. Sobald es dunkel ist, leuchten auf den Mittelaltermärkten überall Feuerterrinen und Fackeln (allerdings auch jede Menge Lichterketten).

Franz geht hauptsächlich auf Mittelalter-Märkte wegen der Musik, für die meisten eine Hauptattraktion. Sie erinnert ihn an die 1970er Jahre, die große Zeit der Folkmusik: Die Musik auf den Mittelaltermärkten ist eine Weiterentwicklung, nicht nur der irischen Folkmusik. Die Mittelaltermusik - oder korrekt ausgedrückt geht es hier um die Musik der Mittelalterszene - lässt sich laut Wikipedia grob in zwei Richtungen auffinden, beide pseudo-historisch und für's heutige Europäer-Ohr in Maßen ungewöhnlich: Der folkloristische Stil steht in der Tradition der Romantik, kommt hörbar vom klassischen Folk und nutzt historische Instrumente wie z. B. Harfen, Flöten, Krummhörner, Schalmeien oder Drehleiern. Der "Dudelsack-Rock-Stil" vermittelt das laute, finstere Mittelalterbild, dröhnt oft mit dem Dudelsack (Marktsackpfeifen) und ist unüberhör- und unübersehbar mit Rock und Metal verwandt. Powermusik, schwärmt Franz. Auf den Märkten spielen die Bands übrigens oft nicht die Rock- oder E-Versionen ihrer Stücke wie bei den separaten Konzerten, sondern die Akustikversionen.

 

Kostümrolle, Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

Einfach nur schön!

Die Mittelalter-Faszination mit ihrem Entkommen aus dem Alltag liegt, so Steffen, sicherlich eine Stufe über der normalen Form der Alltagszerstreuung, andererseits sind die Mittelalter-Konzerte und die mittelalterlich angehauchten Phantasie-Spektakel oder –Märkte auch einfach Freizeitveranstaltungen für einen schönen Tag und Abend mit der ganzen Familie, für Menschen, die Freude an Handgemachtem und an Kostümen haben ...

Man begibt sich zur Zerstreuung in eine andere Welt. Das hat auch etwas von Ausprobieren, von Entdecken. Das Schlüpfen in Kostüme ist ein Einnehmen von anderen Rollen, damit hat dies auch etwas Spielerisches. Wer sich dort engagiert, aber auch jeder Besucher, lässt sich auf ein Spiel ein, auf ungewohnte Rollen, Zeiten, Lebensweisen.

Es gibt viele Gründe und Wege aus dieser unserer Welt zu flüchten oder sie einfach nur einmal zeitweise und teilweise zu verlassen, meint Steffen. Es eröffnen sich einem andere Sichtweisen, Instrumente und Möglichkeiten der Lebensbewältigung.

Und ganz banal ist es einfach schön auf dem Mittelalter-Weihnachtmarkt, mit all den Fackeln, dem angenehmen Licht, dem leckeren Essen, es ist eine nette Zerstreuung in einem netten Ambiente. Erst im Dunkeln wird der mittelalterliche Weihnachtsmarkt wirklich besonders und schön, dann kommt die von Feuern erleuchtete altertümlich-dunkle Atmosphäre erst richtig zur Geltung.

Das ist es auch, was Naomi, 25, auf den Mittelalter-Weihnachtsmarkt zieht: Es gibt überall Lagerfeuer, an denen man sitzen kann. Das ist echt schön für die Atmosphäre und auch zum Aufwärmen, auch wenn man nachher nach Rauch riecht. Die mittelalterliche Musik und die Leute, die dort verkleidet herumlaufen und verkaufen. Die Verkaufsstände sind immer ein Hingucker. Ich könnte da immer so viel kaufen, obwohl ich es niemals bräuchte, antwortet sie auf die Frage, warum MPS denn mein Ding ist.. 

Die machen da schon richtig 'was für Familien, selbst spät abends haben selbst kleine Kinder ihren Spaß, sagt Franz. Strohlager, Ballpool, Piratenlager, Metal-Dino-Kinderkonzert, Gaukler, Kasperltheater. Das Angebot ist groß. Auch wenn man schon in Erklärungsnöte kommt, wenn man erläutern soll, was daran weihnachtlich ist, meint Franz, dem zum Beispiel der dörfliche Blockflötenchor und eben insgesamt das Weihnachtliche fehlen. Obwohl, schränkt er nachdenklich ein, auf den normalen Weihnachtsmärkten ist davon ja auch kaum etwas zu merken. Der Mittelalter-Markt ist aber halt noch etwas weiter weg vom Weihnachtsgedanken, mit dieser lauten Mittelalter-Musik, den Feuern und Pauken ...

Na, dann los! Ab Donnerstag, 22. November 2018, ist der Mittelalterliche Phantasie Lichter Weihnachtsmarkt im Dortmunder Fredenbaumpark eröffnet: Hier geht's zum Tatort-Bericht vom skeptischen Schreiberling.

Mittelalter-Märkte - für Familien

Das schönste Kinderkarussel: "Carousel", Phantastischer Lichter Weihnachtsmarkt, Dortmund, 24.11.2018 (Bild: Vera Kriebel, 2018)

DerSchreiberling, am 23.11.2018
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Bildquelle:
Vera Kriebel, 2018 (Reggae-Festival 2018, Dortmund)
© Nicole Hanser ("Post City"– das Ars Electronica Festival 2015 in Linz (OÖ))
Katti Mieth (Weinprobe im barocken Valletta, der Kulturhauptstadt Europas im Jah...)

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