Ein weiterer "Walking Simulator"?

Die 1990er Jahre brachten nicht nur in modischer und musikalischer Form allerlei Skurrilitäten hervor. Es war auch das Jahrzehnt seltsamer Videos, die beispielsweise sich in einem Aquarium tummelnde Fische oder Kaminfeuer in einer Dauerschleife zeigten. Viele Computerspieler mögen beim Subgenre "Walking Simulator" an derlei Merkwürdigkeiten denken, ganz im Sinne von: "Da kann ich mir auch eine DVD mit Kaminfeuer zulegen". Tatsächlich erscheint es auf den ersten Blick unsinnig, ein Computerspiel ohne Action, Boss Fights oder sichtbare Charaktere anzubieten.

Doch Adventures wie das aus der Ego-Perspektive zu steuernde "Firewatch" können durchaus Spaß machen, so man sich auf ihr extrem reduziertes Format einlässt, das Atmosphäre und Dialoge ganz klar über die Handlungsebene stellt. Seine Spannung bezieht das für Playstation und PC 2016 erschienene Spiel vor allem aus seinen Dialogen, die sich mal mit mysteriösen Vorgängen in einem Nationalpark, dann wiederum mit den beiden Protagonisten selbst beschäftigen, die einem im Verlauf der (wenigen) Spielstunden rasch ans Herz wachsen. Doch der Reihe nach.

Noch das geringste Problem: Nacktbadende junge Frauen

1989 im Shoshone Nationalpark von Wyoming: Henry, über 40, über Normalgewicht und unter persönlichem Stress, muss wieder zu sich selbst finden und hat deshalb bei der Feuerwacht angeheuert. Sein recht einfach klingender Job: Aufpassen, dass der Wald nicht abfackelt, kleine Feuer selbst löschen und bei großen die Feuerwehr zu rufen. Sicher: Die Einsamkeit würde vielen anderen den letzten Nerv ziehen. Doch Henry ist froh über die Gelegenheit, sich nur mit sich selbst beschäftigen und die Natur genießen zu können. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist seine Vorgesetzte Delilah, mit der er in regelmäßigem Funkkontakt steht.

Die anfängliche Idylle wird aber schon bald durch seltsame Vorgänge getrübt.Mit zwei nacktbadenden jungen Frauen, die unerlaubterweise ein Feuerwerk abgeschossen haben, kann Henry noch umgehen. Aber was hat es mit der Höhle an sich, die mit einem Gitter vor neugierigen Besuchern geschützt ist, dessen Schlüssel laut Delilah vor Jahren verschwunden ist? Wieso wird eines Tages sein Wachturm verwüstet, ohne dass etwas gestohlen wurde? Und wen will Delilah im Wachturm gesehen haben, während Henry auf Patrouille gegangen ist? Im Laufe der nächsten Tage häufen sich die Seltsamkeiten und mysteriösen Vorgänge. Als er dann noch auf einen Zaun mitten im Nationalpark stößt, scheint eines sicher: Hier geht definitiv etwas sehr Merkwürdiges vor sich …

Du, darüber müssen wir jetzt reden!

Bereits der Einstieg ins Adventure "Firewatch" führt dem Spieler deutlich vor Augen, dass er es mit keinem "normalen" Spiel zu tun hat. Henrys Vorgeschichte wird mittels Texten erzählt, wobei der Spieler an einigen Stellen auswählen kann, welche Entscheidung Henry getroffen hat. Nicht, dass dies große Auswirkungen auf das Game selbst hätte. Durch diese (vermeintliche) Interaktion wird man aber auf clevere Weise gleich ein Stückchen weit ins Spiel hineingezogen. Denn dieser Prolog bereitet den Boden für Henrys Entscheidung, sich bewusst für die Einsamkeit zu entscheiden, vor und charakterisiert zudem den Protagonisten.

Hier legt "Firewatch" das Fundament zu einer seiner ganz großen Stärken: Der Protagonist ist ein ganz normaler Durchschnittstyp, dessen Lebensentscheidungen ihn nicht nur geprägt, sondern auch belastet haben. Immer wieder quält ihn die Frage, ob er die richtigen Entscheidungen getroffen oder unmoralische gehandelt hat. Verstärkt wird dieser Zwiespalt durch die Dialoge mit seiner Vorgesetzten Delilah, die in einem anderen Wachturm wohnt, Wache hält und sich gelegentlich betrinkt. Wohin diese sich langsam über Funkgeräte entspinnende Beziehung führt, soll natürlich nicht verraten werden. Doch selten zuvor wurde auf realistische, nachvollziehbare Dialoge mehr Wert gelegt als in "Firewatch". Wie die phasenweise sehr zynische Delilah den tendenziell depressiven Henry immer wieder aus der Reserve lockt, mit ihm über alle möglichen Themen redet, sogar ein bisschen mit ihm flirtet, könnte man fast schon als zentrales Element des Spieles bezeichnen.

Trailer zum Adventure "Firewatch"

Ja, mir san mit'm Wadl da

Auch wenn die Dialoge auf den weiteren Spielverlauf keinen Einfluss haben, werden Henry meist mehrere Antwortmöglichkeiten gegeben. In ihrer Intensität erinnern diese Dialoge ein bisschen an die "Walking Dead"-Spiele von "Telltale Games". Und Überraschung: Hinter den Gründern des Entwicklerstudios "Campo Santo" verbergen sich unter anderem zwei ehemalige Mitarbeiter von "Telltale Games". Dennoch entpuppt sich das Debütwerk von "Campo Santo" keineswegs als düsteres Adventure mit hohem Gore-Faktor. Ganz im Gegenteil: Das Setting ist überwiegend am helllichten Tage in der idyllischen Landschaft Wyomings angesiedelt.

Eingebettet sind die Dialoge in eine Mystery-Story, die wie eine Schnitzeljagd nach entscheidenden Hinweisen suchen lässt. Große Herausforderungen stellt das Spiel nicht: Die jeweiligen Aufgaben sind klar umrissen, sodass ein "Scheitern" gar nicht erst möglich ist. Im Verlaufe der nächsten Stunden gilt es, die Gegend auf Schusters Rappen abzuklappern und Karte und Kompass richtig zu lesen. Keine Angst: Pfadfinderkenntnisse sind hierfür nicht nötig. Die Spiellänge variiert dabei je nach Erkundungslust. Klappert man sämtliche Locations ab, dauert das Adventure natürlich weitaus länger. Für die nötige Motivation sorgen die sehr hübsch aufbereiteten Landschaften, inklusive Sonnenuntergang oder Sternenhimmel. An einer Stelle des Spiels erhält man eine Einwegkamera, was im Zeitalter von hochauflösenden Handykameras amüsant wirkt. Mit dem Gerät lassen sich mehrere Fotos von der malerischen Gegend, aber auch von diversen mysteriösen Funden schießen. Ein nettes Feature, das nicht spielentscheidend, jedoch spielerweiternd ist.

"Everybody's Gone to the Rapture" bleibt unerreicht

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Springt beim Adventure "Firewatch" der Funke auf den Spieler über? Jein. Die grafische Pracht lädt zum Erkunden ein, die Dialoge zwischen Henry und Delilah sind gleichermaßen interessant, wie spaßig, mittels seltsamer Vorkommnisse wird der Boden für ein spannendes Rätselraten aufbereitet. Gerade die Story erweist sich aber als Schwachpunkt des Games: Mit fortlaufender Spieldauer verliert sich die Spannung allmählich. Exakter auf die Gründe hierfür einzugehen hieße zu spoilern, deshalb nur so viel: Die Auflösung gerät nach dem verheißungsvollen Beginn ein wenig enttäuschend. Andererseits könnte man diese Auflösung wiederum positiv betrachten: Sie passt in die auf Realismus bedachte Rahmenhandlung, auch wenn sie – das darf verraten werden – nicht unbedingt logisch ist und man nicht allzu sehr darüber nachgrübeln sollte. Wobei, Hand aufs Herz: Selbst in hochgelobten Adventures wie "Baphomets Fluch", "The Last Of Us" oder "Life Is Strange" klaffen gewaltige Logiklöcher und man darf nicht allzu hohe Ansprüche an die Nachvollziehbarkeit der Figurenhandlungen stellen.

Zweifellos macht "Firewatch" über weite Strecken hinweg Spaß und erzeugt anfangs eine gewisse Spannung. An die enorm dichte Atmosphäre, die grafische Wucht und den die Stimmung untermalenden Soundtrack von "Everybody's Gone to the Rapture" kommt das erste Adventure aus dem Hause "Campo Santo" nicht heran. In diesen Bereichen ist "Everybody's Gone to the Rapture" immer noch die unerreichte Genrereferenz. Für Einsteiger ins Genre der "Walking Simulator" oder Gelegenheitsspieler, die kein Interesse an Shootern haben und einfach nur ein paar unaufgeregte, gemütliche Stunden vor der Playstation oder vor dem PC verbringen wollen, ist "Firewatch" genau das Richtige.

"Firewatch" ist gelungene Abwechslung zu Shootern & Co

Übrigens hat der Rezensent das Game auf der Playstation gezockt und musste keinen einzigen Absturz erleben. Aufgefallen ist ihm nur ein einziger Glitch in Form eines zu löschenden Lagerfeuers, das jedoch nicht gebrannt hat. Eine verzeihbare Kleinigkeit, die allenfalls schmunzeln lässt. Zumindest bislang ist "Firewatch" nur auf Englisch mit gleichfalls englischen Untertiteln erhältlich. An einer Deutsch-Synchro darf gezweifelt werden – dafür ist der hiesige Markt für solche Nischenspiele wohl zu klein. Da die Protagonisten jedoch klar verständliches, eher einfach gehaltenes Englisch sprechen, dürften Schulkenntnisse fürs Verständnis völlig ausreichen.

Fazit: "Firewatch" ist ein weitgehend gelungenes Adventure mit etwas unbefriedigender Auflösung. Dafür werden witzige, unterhaltsame Dialoge und idyllische Landschaften geboten. Wer keine schweißtreibende Action und Ballerorgien sucht, wird bei diesem Spiel fündig. Die Spielzeit von nur wenigen Stunden geht für den relativ niedrigen Preis in Ordnung. Wem "Everybody's Gone to the Rapture" gefiel, der kann mit "Firewatch" kaum etwas falschmachen. Bleibt zu hoffen, dass "Campo Santo" weitere Adventures nachlegen wird und den Spielemarkt nicht völlig Shootern und Rollenspielen überlässt. Abwechslung macht das Leben einfach schöner.

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