Gerade in Zeiten von Shootern und blitzend-bunten Fantasy-Krachern erscheint ein Spielekonzept wie jenes des Publishers "The Chinese Room" ebenso anachronistisch wie das Setting im Jahr 1984. Es klingt gar zu haarsträubend, was das derzeit exklusiv für die Playstation entworfene Game offeriert … oder besser gesagt, was es eben nicht offeriert.

Selbst Gelegenheitsspieler wie ich es einer bin erwarten von einem Computerspiel Rätsel, die es zu lösen gibt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Auf dem Weg zu eben diesem Ziel möchte man Dialoge führen, um mehr über diese Welt zu erfahren.

Und was macht "Everybody's Gone to the Rapture"? Wirft den Spieler mitten in den Morgen des 6. Juni 1984 hinein, wo er den Hügel von einem Observatorium in das (fiktive) englische Dörfchen Yaughton hinabsteigen muss. Im Schritttempo. Ohne jegliches Inventar. In Yaughton angekommen erwartet den Spieler eisiges Schweigen. Keine menschlichen Stimmen, kein Motorenbrüllen, kein Hundegebell, nicht einmal das Zwitschern von Vögeln. Offensichtlich nahm eine Apokalypse dem Dorf jegliches Leben. Oder ist die aus der Ego-Perspektive geführte Figur sogar der letzte Mensch auf Erden? Wer ist diese Figur eigentlich?

Dies sei vorweggenommen: Viele Fragen werden beantwortet, allerdings nicht auf dem Silbertablett serviert, wie man es gewohnt ist, und auf eine Weise, die mehrere Interpretationen zulässt. Mehr zu verraten wäre ärgerliches Spoilern, und das wäre unfair gegenüber einem denkbar ungewöhnlichen Computerspiel. Doch handelt es sich bei "Everybody's Gone to the Rapture" überhaupt um ein Spiel, wie so manche Stimmen zu vernehmen waren?

Um auf den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga, dem wir den Begriff des Homo ludens ("Der spielende Mensch") verdanken, zurückzugreifen: Ja, denn es erfüllt alle Kriterien eines Spiels nach Huizinga, insbesondere jenes, dass ein Spiel "begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘." (Zitat aus "Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel").

Kein Screenshot aus "Everybody's ...

Kein Screenshot aus "Everybody's Gone to the Rapture" - kommt dem Game aber sehr nahe (Bild: https://pixabay.com/)

Jessica Currys Soundtrack untermalt "Everybody's Gone to the Rapture"

Dabei präsentiert sich das Setting zunächst als gar nicht so "anders". Die Spuren des Lebens sind noch überall anzutreffen: Kleidung hängt auf Wäscheleinen, im Pub stehen halbleere Biergläser und volle Aschenbecher herum, im Ferienlager scheinen die Besucher einfach nur mal rasch woanders hin gegangen zu sein. Doch was hat es mit den sporadisch zu lesenden Botschaften über eine Quarantäne auf sich? Welcher Quelle entspringen die mysteriösen Botschaften im Radio und auf den Fernsehkanälen? Und vor allem: Woher stammen die menschlichen Stimmen, die scheinbar willkürlich Einblick in eine Vergangenheit geben, in der Menschen ihrem alltäglichen Tun nachgingen?

Um das Spiel genießen zu können, muss man sich vollends auf seinen Grundton einlassen, der in seiner Atmosphäre besteht. Die äußerst realistisch animierte Landschaft erinnert an alte britische Filme. Doch wenngleich keinerlei Nebenlandschaften oder Moore für klischeehafte Bedrohungsszenarien sorgen, sondern im Gegenteil unbritisch sonniges Wetter den Tag beherrscht, ist die Atmosphäre melancholisch-düster. Die einzigen Geräusche stammen vom Spieler selbst, wenn er durch die Straßen oder Wiesen stampft, Türen öffnet oder ein Radio anstellt und geheimnisvolle Botschaften empfängt, und vom dezent im Hintergrund das Spiel begleitenden Soundtrack Jessica Currys, der auch Nichtspieler begeistern sollte.

Kein Spiel für jeden, kein Spiel wie jedes

"Everybody's Gone to the Rapture" ist ein nicht-lineares open-world-game. Zwar können nicht restlos alle Räume erkundet werden, doch alleine das Aufsuchen sämtlicher Schauplätze kostet mehrere Stunden.

Für wen lohnt sich das Geduldsspiel bzw. wem wird der Geduldsfaden nach wenigen Minuten reißen? Wer sich einfach nur entspannen und großartige, von stimmungsvoller Musik begleitete englische Landschaften bewundern möchte, macht mit diesem Game nichts verkehrt. Erwartet man sich von einem Computerspiel jedoch Action oder zumindest eindeutige Rätsel, die nach ihrer Auflösung eine Belohnung in Form eindeutiger Antworten geben, wird man sich nach spätestens fünf Minuten fragen, ob "Everybody's Gone to the Rapture" ein dadaistischer High-Tech-Scherz ist. Ich empfehle deshalb, vorab den offiziellen Gametrailer anzusehen, und auf dessen Grundlage zu entscheiden, ob dieses Spiel den eigenen Geschmack treffen könnte oder nicht.

Mein Fazit nach Spielende: "Everybody's Gone to the Rapture" ist ein Kunstwerk, ein Puzzle, das der Spieler ohne Vorlage zusammensetzen und das Endergebnis selbst interpretieren muss. Abseits der kryptischen Botschaften und der Frage, worum sich das Spiel eigentlich dreht, behagte mir alleine schon das Erkunden des Dorfes, das typisch britisch, aber doch mit Technologie und Ikonografie des Jahres 1984 versehen ist, der legendäre C64-Computer sowie der damals enorm populäre "Zauberwürfel" eingeschlossen.

Und um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Muss ein Spiel eine befriedigende Spielauflösung haben? Ich denke, nein. "Everybody's Gone to the Rapture" ist ein auf eindrucksvollen Bildern und sakral anmutender Hintergrundmusik errichteter, von emotionaler Tiefe hochgezogener Turm zu Babel, der verwirren mag. Ihn zu erklimmen lohnt sich für aufgeschlossene Gemüter. Ich kann dieses Game insbesondere Gelegenheitsspielern empfehlen, die "The Last Of Us" für seine Atmosphäre liebten.

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rainerinnreiter, am 02.01.2016
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Bildquelle:
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