War das Mittelalter wirklich eine "dunkle" Zeit?

Als Mittelalter wird der Zeitabschnitt zwischen Antike und Neuzeit bezeichnet, also der Zeitraum vom 6. bis zum 15. Jahrhundert.

Fälschlicherweise bezeichnet man sie als "dunkle" Zeit. Unwissenheit, Aberglaube lauern hinter dieser Bezeichnung, aber Persönlichkeiten wie Thomas von Aquin, Meister Eckhart, Roger Bacon oder Albertus Magnus, Gelehrte von Weltruf, zeigen ein anderes Bild. Nicht umsonst gehörten zu den mittelalterlichen Bewohnern einer Stadt nicht nur Kaufmann und Handwerker, sondern auch Universitätslehrer und Studenten.

Im Mittelalter sind die ältesten Universitäten entstanden

  • wie Bologna (1088),
  • Paris (1150) und Oxford (1167), 
  • gefolgt von Salamanca (1243),
  • Wien (1365), Heidelberg (1385) und Krakau (1364).

Im 13. Jahrhundert blühte das universitäre Wesen so richtig auf. Mit ihm das fundierte Suchen nach Ursache und Wirkung der verschiedenen Pflanzenwirkstoffe.

 

Das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen im Mittelalter

Wie aber stand es um das Wissen über die Anwendung vieler Pflanzen? Begeben wir uns auf einen kleinen historischen Rundgang.

Die Geschichte der Phytotherapie

  • Die ältesten historischen Funde über Heilpflanzen sind 6.000 Jahre alt und in Keilschrift erhalten. Sie wurden am Persischen Golf auf Tontafeln gefunden.
  • Die ersten überlieferten Pflanzenbeschreibungen und Rezepte stammen aus dem alten Ägypten (2500 vor Christus). Ein Papyrus, auf dem über 600 Pflanzen und ihre Anwendungsbereiche verzeichnet wurden.
  • Hier streitet die alte Welt mit dem fernen China: Sie sagen, das erste Kräuterbuch entstand 3000 v. Chr. in China und listet rund 1000 Heilpflanzen auf.
  • Zurück in den Mittelmeerraum - aus dem Bereich des Orients gelang das Wissen nach Griechenland und später nach Rom.
  • In der Medizin und Pflanzenkunde schöpfte man noch das gesamte Mittelalter aus den Schriften des römisch- griechischen Arztes und Pflanzenkundigen Galenos (Galen) von Pergamon (129 bis 216). Seine "Methodi medendi" wurde jahrhundertelang als Lehrbuch verwendet.
  • Sein Ansatz, Krankheiten mit dem entgegen gesetzten (allopathischen) Heilmittel zu behandeln, hat sich bis heute als "Galenika" bewährt. Auch die Lehre von der Zubereitung der Arznei ehrt seinen Namen: Galenik. Dieses Wissen wurde bewahrt und vermehrt in den Universitäten und neu entstandenen Medizinschulen.
    *Galenik= ist die Lehre von den Darreichungsformen eines Arzneimittels.

Salerno

Duomo di Salerno (Bild: Kliò / Flickr)

Die Medizinschule von Salerno

Salerno wird von der Forschung als das herausragende mittelalterliche medizinische Zentrum, das Wissen um die Arzneien betreffend, bezeichnet.

Der Legende nach wurde die Medizinische Schule von Salerno im 10. Jahrhundert gemeinsam von einem Juden, einem Christen und einem Moslem gegründet. Im 11. Jahrhundert war diese Medizinschule besonders dank der Übersetzungen von medizinischen Schriften, sowohl aus dem griechischen als auch aus dem arabischen Raum, berühmt.

Das verdankte sie Constantinus Africanus (1017 bis 1087). Er kam aus dem Orient als Lehrender an die Medizinschule Salerno. Im nahen Benediktinerkloster Montecassino begann er als Laienbruder seine eigenen Werke und die bedeutendsten arabischen Heilkundler, wie Avicenna, Avenzoar oder Ibn-el-Beithaar, sowie die Griechen Hippokrates und Galenos in Latein zu übersetzen. Erstmals floss so das umfassende Wissen der arabischen Welt in das Wissen Europas ein. Zum Dank wurde ihm der Ehrentitel "orientis et occidentis magister" verliehen.

In Salerno erfolgte auch erstmalig die Trennung Arzt - Apotheker. Die Pflanzen wurden in einem gesetzlichen Arzneibuch beschrieben, die städtischen Apotheken betreuten nach dem Vorbild von Klostergärten die Heilpflanzen. Aus dieser Zeit stammt auch das Artepytheton officinalis, officinale.

*officinalis, officinale, officinarum: Stammt aus dem Lateinischen und kommt vom "Offizin"= Verkaufsraum der Apotheke. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Pflanzen, die in solchen Apotheken (Officinae) gezüchtet, gepflanzt, zubereitet und als Arznei verwendet wurden.

 

Der Klostergarten, die Schatztruhe der Heilpflanzen

Die Klöster der Benediktiner, Kartäuser und Zisterzienser verbreiteten nicht nur das Christentum, sondern auch das Wissen um die Verwendung der Kräuter. Aus den Mutterklöstern jenseits der Alpen brachten sie viele Ableger und Samen mit, gewöhnten die Pflanzen an das raue Klima und züchteten neue Sorten. Sie ließen aber ebenfalls das Wissen um die örtlichen Pflanzen mit einfließen.

Auch viele Obstsorten, wie etwa diverse Apfelsorten, haben wir den Klostergärten zu verdanken.

Pater/Bruder "Gärtner" tauschte, wie auch heute von Nachbar zu Nachbar, seine Samen (Stichwort Samentausch) und Ableger mit den ansässigen Bauern aus. So verbreiteten die Mönche den Schatz der Heilkunde.

Kaiser Karl der Große (747 bis 814) ordnete in seiner "Capitulare de villis" sogar an, welche Pflanzen auf seinen Krongütern angebaut werden sollten. Nach dem Muster der Klostergärten wurde in Burgen, Schlössern und an Medizinschulen ein Kräutergarten mit der allzeit greifbaren "arzney" angelegt, gehegt und gepflegt. Pflanzennamen, wie Benediktenkraut oder Benediktinerdistel zeugen noch von ihrer klösterlichen Herkunft.

Diese Gärten wurden natürlich im kleinen Stil abgeguckt, auf diese Weise entstand auch die Tradition der alten Bauerngärten. So wurden bald auch die Bäuerinnen die Heilkundigen.

Klostergarten (Bild: https://pagewizz.com/heilpf...)

Handschriften der Klöster als kostbares Wissen

Erhaltene Handschriften aus den Klöstern des Mittelalters sind dabei der wertvollste Schatz.

  • Lorscher Arzneibuch
    Im 8. Jahrhundert sammelten die Mönche im Kloster Lorsch bei Worms all ihr damaliges, medizinisches Wissen und schrieben es auf. Eine prunkvolle Handschrift – das "Lorscher Arzneibuch" entsteht. Dieses Handbuch für den Mönchsarzt ist das älteste erhaltene Buch zur Klostermedizin im deutschsprachigen Raum.
  • Der Bendiktinerabt Walafrid Strabo (809 bis 849) der Insel Reichenau beschrieb wiederum die Heilpflanzen in seinem Werk "Hortulus" in Gedichtform.
  • Einige Jahrhunderte später tat sich die Äbtissin und Mystikerin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) als Kräuter- und Heilkundige hervor. Ihre Werke "Physica" und "Causae et curae" erlebten in den letzten Jahren eine wahre Renaissance. Ihr ist es zu verdanken, dass erstmals auch die "teutschen" Namen neben den lateinischen Bezeichnungen standen.
  • Der Gelehrte und Bischof Albertus Magnus (1200 bis 1280) wiederum verfasste eine umfassende Darstellung der mitteleuropäischen Flora.
  • Weiters bekannt ist der spanisch-arabische Arzt und Botaniker Abu Muhammad Ibn al-Baitar. Er beschrieb um 1230 im "Kitab al-gami" über 1.400 pflanzliche Heilmittel und ihre Rezepturen.

 

Und? Wo bleiben die Kräuterhexen?

Die leidigen Hexen, möchte man seufzen. Nicht die kräuterkundigen Frauen oder auch Männer, sondern deren Verfolgung, macht auch heute noch betroffen. Viel Heilwissen ging sicher durch die radikale Verfolgung dieser Menschen verloren. Aber so wie das klösterliche Wissen um die Heilwirkung der Pflanzen in die Volksheilkunde überging, floss das Wissen der Kräuterfrauen- und männer sicher auch in so manchem stillen Kämmerlein in mündlicher Überlieferung weiter.

Wer allerdings heute "kräuterhexe" als Suchbegriff online eingibt, erkennt, dass sich hier eine ganze Schar an Berufen neu etabliert hat: Kräuterhexe, Kräuterpädagoge, Kräuterfachfrau ..... also nichts wie ab - ins (neuzeitliche) Mittelalter.

 

Nicht nur heilen, auch stärken und vorbeugen

Die gesamte Lehre der Heilpflanzenkunde richtete sich bereits im Mittelalter nicht nur darauf aus, zu heilen, sondern auch den Menschen zu stärken. Deshalb wurde so manche Heilpflanze, wie etwa der Fenchel oder viele andere Würzkräuter in die Zubereitung der Speisen miteinbezogen.

Übrigens - der Spruch "Dagegen ist kein Kraut gewachsen" stammt aus dieser Zeit.

 

Was bedeutet dieses Pflanzenwissen heute?

Alles überholt oder nicht? Die moderne Medizin kommt auch ohne abstruse Kräutertränke aus; so möchte man meinen. Weit gefehlt. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Resistenz vieler Krankheitserreger gegenüber Antibiotika erfordert es geradezu, das alte Wissen herauszukramen, zu überprüfen und es neu zu interpretieren.

Heilschätze warten darauf gehoben zu werden

Heute wird gezielt in mittelalterlichen "Artzeney-Schriften" nach noch ungehobenen Schätzen gesucht und mit modernen wissenschaftlichen Methoden nach neuen pflanzlichen Heilmitteln geforscht.

Die Forschergruppe "Klostermedizin" am Würzburger Institut für Geschichte der Medizin, Ärzte, Philologen, Chemiker und Pharmazeuten haben sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen, um die Überlieferungen der Mönche und Nonnen für die moderne Medizin nutzbar zu machen. Sie war also doch nicht so dunkel, diese Zeit.

Die Top Ten der Heilkräuter des Mittelalters

Liest man sich in die Anwendungen dieser Heilkräuterpflanzen ein, so entdeckt man schnell, dass sich an ihrem Einsatz für Krankheit und Wohlbefinden kaum etwas in den vergangenen Jahrhunderten geändert hat. Gar nicht so dumm unsere Vorfahren; nicht wahr?

Klöster waren doch eine gute Einrichtung, vor allem für die Hilfe suchenden Menschen aus dieser Zeit.

  • Fenchel Foeniculum vulgare für die Verdauungsorgane
  • Frauenmantel Alchemilla vulgaris besonders die Gutationstropfen/Tautropfen wurden als "Himmlisches Wasser" geschätzt, entzündungshemmend
  • Benediktenkraut Cnicus benedictus für Bittertees und zur Stärkung
  • Beinwell Symphytum officinale für äußerliche Umschläge
  • Johanniskraut Hypericum perforatum das aufhellende Kräutlein für die Seele
  • Ringelblume Calendula officinalis für Wundheilung als Salbe
  • Baldrian Valeriana officinalis schlaffördernd und appetitzügelnd
  • Salbei Salvia officinalis er galt schlechthin als Allheilmittel
  • Borretsch Borago officinalis blutreingend
  • Knoblauch Allium sativum antiseptisch, blutdrucksenkend

Die Auswahl der wichtigsten Heilpflanzen könnte meiner Meinung nach auch sicher ganz anders ausgesehen haben. Die Top 100 würden wohl am besten dem damaligen Gebrauch entsprechen.

Halt! Diese Pflanzen sind mit heutigem Wissen mit Vorsicht zu genießen.

Das Schreckwort in der heutigen Phytomedizin ist "Pyrrolizidinalkaloide", kurz PA bezeichnet.

Diese Alkaloide haben leberschädigende Wirkung. Deshalb wird empfohlen jene Heilpflanzen, in denen die Alkaloide enthalten sind, heute entweder nur mehr äußerlich anzuwenden, wie etwa den Beinwell, oder es wird daran gearbeitet Pflanzen zu züchten, die Pyrrolizidinalkaloid-frei sind.

Aber wie schon vor Jahrhunderten gilt auch heute noch der Satz: Die Dosis macht das Gift.
Folgende Pflanzen sind aus heutiger Sicht mit Augenmaß zu verwenden oder durch andere zu ersetzen:

Dass so manche Heilpflanze eine Giftpflanze ist, beweist einmal mehr, dass echtes Wissen um die Wirkstoffe der Pflanzen unentbehrlich ist.

Frauenmantelblüte (Bild: a.sansone)

Mit der Erfindung des Buchdrucks (um 1450) zu Beginn der Neuzeit gelangte dieses Wissen vermehrt in die Welt. So etwa das Kräuterbuch des Tabernaemontanus oder die Schriften des Arztes und Pflanzenkundigen Paracelsus, die aber beide bereits der Neuzeit zuzuordnen sind.

Paracelsus brachte seine Signaturenlehre ein, die besagt, dass das Aussehen der Pflanze auf ihre Heilwirkung schliessen liesse. Lange belächelt, erfährt Paracelsus heute durch moderne Forschungen oft genug Bestätigung. Das Lungenkraut etwa, das ihn aufgrund seiner fleckigen Blätter an Lungengewebe erinnerte, wird als Tee bei chronischen Atemwegserkrankungen verwendet.

Kräuterkundige von heute - Die moderne Phytotherapie

Die Pfarrer Kneipp, Künzle und Weidinger hielten die Tradition der mittelalterlichen Klöster um die Kräuterheilkunde weiter hoch. Der Arzt Dr. Rudolf Fritz Weiss wiederum stellte die Heilpflanzenkunde auf eine solide wissenschaftliche Basis. Er gründete den ersten Lehrstuhl für Phytotherapie in Deutschland und sorgte für die längst fällige Anerkennung durch die Schulmedizin.

*Rudolf Fritz Weiss (* 28. Juli 1895 in Berlin; † 27. November 1991 in Aitrach) war ein deutscher Facharzt für Innere Medizin und Professor für Phytotherapie. Er gilt als Begründer der wissenschaftlichen Pflanzenheilkunde.

 

Fazit: Das Wissen um die Heilkräuter aus alter Zeit ist kostbares Gut.

Quellen:

  • Bildnachweis: Klostergarten, Bauern aus Alte Bauerngärten neu entdeckt/ Christiane Widmayr/ Apel/BLV
  • Miniatur aus: Die Zeit der Ritter und Burgen/Junges Wissen/Time-Life/Bertelsmann Verlag
  • Literaturtipp: Hand-Rudolf Fehlmann: Deutsche Heilpflanzennamen in St. Galler Handschriften (9. bis 11. Jahrhundert), in: Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, hrsg. von Gundolf Keil u. a., Berlin 1982
  • Kräuterbuch des Tabernaemontanus
  • IZMS – Mittelalter-Ringvorlesung 2006/07 – Klöster und Universitäten, Daniel Rötzer (Romanistik) Universität Salzburg
Adele_Sansone, am 17.08.2015
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Bildquelle:
a.sansone (Giftpflanzen in unserem Garten - diese Pflanzen sind schön und gefä...)
https://pagewizz.com/users/Adele_Sansone (Botanische lateinische Bezeichnungen - Was bedeuten sie?)

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